Müssen dem Gast die Augen weh tun?

■ Prolleckkneipen und Studentenpinten der Achtziger sind out, in ist Erlebnisgastronomie

Der Schock hatte sich gewaschen. Nach dem Mauerfall liefen den Westberliner Szenekneipen die Stammgäste in Scharen davon. Der Osten war hip, insbesondere die Oranienburger Straße. Ausgediente Fleischereien und Obst- und Gemüseläden, dunkle Kellerlöcher und Garagen hatten magische Anziehungskräfte. Auf der Szenemeile im Westen dagegen herrschte gähnende Leere. Manche Kneipe erholte sich davon nie mehr und mußte schließen. Dafür schossen in Mitte und Prenzlauer Berg die neuen Läden wie Pilze aus dem Boden.

Im Jahr sieben nach der Wende werden die Claims neu abgesteckt. Inzwischen gibt es in der Stadt 11.200 gastronomische Betriebe. 30 Prozent davon sind Kneipen, und die haben es nicht leicht. „Mehr als 30 Prozent der Kneipen wechseln einmal im Jahr den Besitzer“, beschreibt der bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) für die Konzessionen zuständige Claus Labonté die Lage.

Die alte Prollkneipe mit verstaubten Gardinen und Hydropflanzen ist vom Aussterben bedroht. Ebenso wie die klassische Szene- und Studipinte der Siebziger und Achtziger, wo es nie Klopapier gab, dafür aber um so mehr Soliveranstaltungen. Nach dem Wegfall der Berlinsubventionen ist allein mit Flüssignahrung keine Mark mehr zu machen. Hohe Gewerbemieten, aufdringliche Wirtschaftsprüfer und steigende Personalkosten – selbst studentische Kellner sind demnächst rentenversicherungspflichtig – sind schlecht fürs Geschäft.

Unternehmen wie die großen Techno-Discos E-Werk und Tresor haben aufs richtige Pferd gesetzt. Ihre Bank ist das anspruchslose Jungvolk, das nur stundenlang abhotten will. Auch der Oldtimer unter den Szeneclubs, die auf House spezialisierte Disco 90Grad, ist seit sieben Jahren auf Erfolgskurs. „Wir haben auch mal schmuddelig angefangen wie die Ostclubs, aber früh genug gespürt, daß durch die Rezession das Bedürfnis nach besserem Service und Ausstattung gewaltig gestiegen ist“, beschreibt Creativ-Man Dag das Konzept des Ladens.

Das Zauberwort von heute heißt „Erlebnisgastronomie“ – ein möglichst spezielles Angebot für eine ganz spezielle Zielgruppe. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Im KitKat Club können die Gäste mit der Akteurin auf der Bühne vögeln. Im australischen Lokal Wooloomooloo bestellt man gebratene Känguruhkeule, im Seelig werden mittelalterliche Gerichte in historischer Kluft gereicht. „Die Leute ab 25 aus der kreativen Szene wollen den Kick: geile Discos, Mottoparties, Szenenachtclubs“, weiß Tom Ernst vom Café-, Bar- und Restaurantschiff Sanssouci an der Oberbaumbrücke. „Gute, frische Produkte, extrem freundliche Bedienung und ein gestylter Laden sind heutzutage ein Muß“, bestätigt Martin Sellmann vom Mediencafé La Strada. Die Altersstruktur der Gäste habe sich vollkommen verändert. Die Altlinken hätten zwar meist mehr Geld als früher, aber viel weniger Zeit.

Dag vom 90 Grad findet, daß Berlin auf weltstädtischem Niveau kaum etwas zu bieten hat. Viele Läden hätten die Attitüde, etwas Besonderes zu sein, ohne dem gerecht zu werden. Als Beispiel nennt er die fließenden Formen und Steinmosaike, die zur Zeit als Innendekoration in sind. „Das ist Rudolf-Steiner-Gedächtnisarchitektur“, sagt er abfällig. „So stellt sich ein Dörfler eine Berliner Kneipe vor.“ Dags Credo: „Wenn man sich von den anderen unterscheiden will, müssen dem Gast die Augen weh tun, wenn er in den Laden reinkommt.“ Plutonia Plarre