Weißer Fleck auf der Landkarte

Mit dem Linienbus von Tunesien nach Libyen. Eindrücke einer Reise nach Tripolis  ■ Von Ursula Wöll

„Welcome to Libya“, begrüßt mich der junge Grenzposten und kassiert die von der libyschen Botschaft in Bonn gestempelte grüne Einreisekarte. Er trägt eines der gemusterten Hemden, die ich später im Basar wiederfinde. Im nahen Ras Ajdir krähen die ersten Hähne, und der Muezzin ruft zum Gebet. Die Pforte zum Reich des Bösen kann das nicht sein. Oder stehen schon hier welche vom Geheimdienst herum, den es laut Spiegel gleich vierfach gibt?

Sogar Geschäftsleute sind auf Taxi oder Mercedes angewiesen, weil die Vereinten Nationen alle 120 Tage ihren Flugboykott erneuern. Ich komme im täglichen Linienbus Tunis–Tripolis, gemeinsam mit 50 Libyern, die zum Einkaufen in Tunis waren. Wie schon auf der tunesischen Seite geübt, müssen wir uns in nach Frauen und Männern getrennten Schlangen zur Paßkontrolle anstellen, denn auch in Libyen geht es nicht ohne Uniformierte. Doch sie erledigen alles schneller und schauen weniger an, so kommt es uns nach dem gerade überstandenen Martyrium vor. Von der arabischen Einheit wird nur an den geduldigen Hauswänden von Tripolis geträumt. Hundertfach präsentieren sich da die arabischen Länder als eine einzige Fläche in Grün, der Farbe des Propheten und auch der libyschen Flagge. Nach 180 Kilometern dann das blendend schöne Panorama der Hauptstadt hinter einem breiten Palmengürtel. Das große Kastell am alten Hafen, das heute Museum ist. Dahinter die Medina mit ihren Souks, die überquellen, seit in den achtziger Jahren Privatunternehmen wieder zugelassen wurden. Unweit der Saha al- Khadra, der Grüne Platz, auf dem die Kundgebungen stattfinden. Danach Stuckhäuser, Arkaden und Paläste im italienischen Kolonialstil.

Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Ich treffe auf den jungen Abdul aus Algerien, der in einer Patisserie arbeitet. Er verdient 300 Dinar. Viel mehr bringen auch die Libyer selbst nicht nach Hause, was zu Unzufriedenheitsäußerungen veranlaßt. Für Suppe, Huhn, Beilagen und Salat im Restaurant zahlt man schon 10 Dinar. Über eine Million Gastarbeiter leben in Libyen. Viele wissen nicht, wie lange sie bleiben dürfen. Da die Wirtschaft nicht mehr so boomt wie früher, könnten ihre Plätze von Einheimischen besetzt werden, die heute nur die Bürojobs erledigen. „Schlafen, arbeiten, Kino, das ist mein Leben hier. Außer Kino gibt es nichts“, sagt Abdul. Das Kino neben meinem Hotel spielt den Hongkong-Film „Kill Me Again“, das englische Filmplakat ist so ziemlich das einzige, was ich lesen kann. Gleich gegenüber liegt die Moschee des Viertels. An den heißen Abenden stehen die jungen Männer an den Straßenecken. Das Geld reicht höchstens für eine Coca-Cola. Alkohol ist verboten und nirgends im Umlauf, auf Familienfeiern serviert man Mandelmilch. Suchen die Libyer ihre Form des Rausches im Autofahren? Benzin ist achtmal billiger als Wasser, und auch nachts brummt der Verkehr. Ein Chaos ohne Regeln und Verkehrszeichen. Die Überquerung einer Straße gerät zum Abenteuer. Die von Gaddafi verordnete Harmonie zwischen Tradition und Moderne scheint zunehmend zum Spagat zu werden. Während die Zugeständnisse an westlichen Lebensstil die im Ausland agierenden Oppositionsgruppen nicht beeindrucken, haben sie auf der anderen Seite in Ansätzen eine islamisch-fundamentalistische Opposition erzeugt.

Als Gaddafi vor 27 Jahren die Macht übernahm, fand er 90 Prozent Analphabeten vor. Heute ist das Bildungssystem kostenlos, auf den Besuch der neunjährigen Pflichtschule wird auch auf dem Land streng geachtet. Der Anteil der Studentinnen ist hoch, selbst in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern. Viele sitzen mit Kopftuch vor dem Computer, andere verzichten darauf, auch wenn dem Islam trotz der laizistischen Staatsform eine bestimmende Rolle im sozialen Leben zugeschrieben wird. Als Kitt soll er die sich rasant verändernde Gesellschaft zusammenhalten.

Obwohl Frauen rechtlich gleichgestellt sind, sogar zwei Ministerposten besetzen, der allgemeinen Wehrpflicht unterliegen und sich zunehmend ins Berufsleben integrieren, wird ihre Rolle im Grünen Buch traditionell definiert: „Frauen sind meist zart, hübsch, neigen zum Weinen und Erschrecken. Sie sind meist sanftmütig, während das männliche Wesen Robustheit entwickelt hat.“ Die „Universaltheorie“ Gaddafis, noch immer ideologische Basis, gerät nicht nur in diesem Punkt in Widerspruch zur Realität.

Farida Mizran vom General Board of Tourism schenkt mir Bildmaterial. Vor allem Gruppentourismus in die grandiosen Wüstengebiete des Südens ist erwünscht. Laut Nahost-Jahrbuch besuchten im letzten Jahr 95.000 Touristen, vor allem Deutsche und Italiener, das Land. Ein Abstecher in die antiken Ruinenstädte Leptis Magna oder Sabratah ist für Besucher der Hauptstadt ein Muß. Sabratah liegt nur 70 Kilometer westlich und wurde 1982 als Weltkulturerbe in die Unesco-Liste aufgenommen. Ein riesiges Arsenal mit punischen und römischen Ausgrabungen.

Der Buchladen in der First September Street ist enttäuschend armselig. Ich erwerbe das Grüne Buch auf deutsch und lese Erfreuliches: „Die natürliche Person hat die Freiheit, sich zu äußern, sogar dann, wenn sie wirr ist und sich irrational verhält.“ Sind nur Äußerungen privater Natur gemeint? Laut Jahresbericht 1996 von amnesty international sitzen Hunderte von politischen Gefangenen ein und sind Mißhandlungen ausgesetzt. Erstmals seit 1992 fanden sechs Hinrichtungen statt, die im Fernsehen übertragen wurden. Eine andere glaubwürdige Quelle, das Nahost-Jahrbuch des Deutschen Orient- Instituts, bestätigt die Hinrichtung von sechs Raubmördern und fährt fort: „Unklar blieb das Ausmaß der seit Jahren laufenden Strafvollzugsreform, in deren Verlauf es nach Jana zur ,Zerstörung des letzten Gefängnisses‘ einschließlich der Freilassung von 305 Gefangenen kam.“

Ein typisches Beispiel für die Widersprüche in der spärlichen Literatur über Libyen. Reisende, die auf Sekundärinformation angewiesen sind, um Beobachtungen „richtig“ interpretieren und hinter die glatte Oberfläche sehen zu können, werden im Fall Libyen auf schwankendem Boden gelassen.