Disneyland oder Agrartourismus?

Wie sich der Lebensraum und damit die Beziehungen durch den Tourismus verändern, untersuchten Fachleute bei den deutsch-griechischen Architekturwochen auf den Kykladen  ■ Von Uwe Wandrey

Schwarz und schwer hängen die Wolken über Siphnos. Schauerböen, Gewittergrollen, die Götter räumen auf. Nach fünf knochentrockenen Monaten geht auf der Kykladeninsel der erste Regen nieder. Mitte September. Die letzten Touristen im Hauptort Apollonia sind – platschnaß vom Wolkenbruch – unter das Wellblechdach des Kafenions geflüchtet. Und wieder einmal kommt es zu heftig. Ein breiter Wasserschwall platscht in Kaskaden den marmornen Treppenweg des Dorfes hinunter. Sturzbäche strudeln aus schmalen Fußsteigen dazu. Regenrohre speien glucksende Spiralen. Von Dachaufgängen, Fenstersimsen und Türschwellen gleiten wäßrige Filme. Die Wasser vermengen sich zu einem reißenden Bach, der sich auf der Platia des Dorfes mit anderen vereint. Ein mächtiger Strom quillt neben der asphaltenen Ausfahrtstraße hinab. Von den Berghängen stürzt lehmfarbenes Wasser dazu. An der nächsten Serpentine ergießen sich die Massen ins Tal. Minuten später haben die Salzfluten der Ägäis das süße Naß geschluckt.

Es würde dringend gebraucht. Auf fast allen griechischen Inseln klagen Touristen und Einheimische über stundenlange Wassersperren. Oft kleckert nur brackiges Wasser aus den Duschen.

Etwa 30 Millionen Kubikmeter regnen jährlich auf die 80 Quadratkilometer große Insel nieder. Nach einer französischen Studie über die Kykladeninseln verdunsten davon etwa 50 bis 60 Prozent, rund 10 Prozent, also 3 Millionen Kubikmeter, versickern als Grundwasser. Der Rest – rund 10 Millionen Kubikmeter – rauscht bei kräftigen Niederschlägen ins Meer.

„An dieser Stelle bauen wir ein Auffangbecken und dann eine Reihe von Speichertürmen. Sie könnten aussehen wie die alten Taubentürme.“ Christoph Janiesch, Architekturstudent an der FHS Düsseldorf, heftet einen Transparentbogen auf die Umgebungskarte von Apollonia. Er gehört zur Planungsgruppe der deutsch-griechischen Architekturwochen auf Siphnos.

Sein Lehrer Christoph Wagner kommt seit dreißig Jahren und verfaßte mehrere wissenschaftliche Arbeiten über die Siedlungen der Insel: „Eine Architektur, die nicht von Architekten gebaut wurde.“ Doch jetzt droht dieser auf der Welt einmalige Kulturschatz verlorenzugehen. Was Wagner im vergangenen Jahr bewegte, hier die „Sommerakademie auf den Kykladen“ zu gründen.

Wer traditionelle „Volksarchitektur“ schützen will, muß sich mit den Dorfbewohnern von heute auseinandersetzen. Die sehnen sich nicht nach den Öllampen und Ziehbrunnen ihrer Vorfahren. Für sie kommt der Strom seit zwanzig Jahren aus der Steckdose, das Wasser aus dem Hahn.

Manchmal allerdings kommt nur Luft. Die Wassernot und der drohende Verfall der Kykladenarchitektur sind Ergebnis eines tiefgreifenden Strukturwandels: Nach der Landflucht der fünfziger und sechziger Jahre ließen weitere Bauern ihre Felder im Stich und bauten Ferienhäuser. Touristen werfen das Geld bequemer ab als Gemüse. Doch beim Tourismus machte man die Rechnung ohne die Natur. Regenwasser, bisher durch jahrtausendealte kultivierte Terrassen gebremst und versickert, fließt jetzt ins Meer und geht dem Grundwasser verloren. Das Mauerwerk zerfällt, der verkarstete Boden wird aufgeweicht, von Weidevieh zertreten und mit starken Regenfluten weggeschwemmt. Noch vor hundert Jahren hätte dies die Insel unbewohnbar gemacht.

Wie auf dem Lande so in den Ortschaften: Die Lehmdächer verlassener Häuser stürzen ein, durch Tür- und Fensterlöcher streichen Regen und Wind, die mächtigen Steinmauern verwittern. Dünnwandige Neubauten wuchern vom Ortsrand ins Land. In den halbwegs erhaltenen Altbauten machen sich Bars und Boutiquen breit. Der warme Geldregen der Touristen könnte den Siphniern den Boden unter den Füßen wegspülen.

Doch langsam beschleicht sie Unbehagen. Ihnen blieb nicht verborgen, was die Tourismuswalze von der verträumten Bauern- und Fischerinsel Mykonos übriggelassen hat. Der siphnische Schriftsteller und einstige Bürgermeister Antonis Troullos: „Siphnos hat nicht viel vorzuweisen, weder antike Theater noch große Museen. Ihre ganze Schönheit ist ihre architektonische Tradition. Und davon sind wir jetzt langsam alle überzeugt. Die Helfer sind herzlich willkommen.“

Doch wer retten will, muß erst erfassen, was schützenswert ist. Kartographisch, soziologisch und ästhetisch. „Lebens-Raum als Beziehungsraum“ lautet das diesjährige Tagungsthema der deutsch- griechischen Architekturwochen vom 1. bis zum 20. September. Fachleute, Studenten, interessierte Laien begehen und beschreiben Landschaft und Architektur, beobachten das menschliche Zusammenleben. Mit dem Architekten Wolfgang Willkomm entdecken sie, wie Licht und Schatten Räume entwerfen, und ertasten die Gestalt der Stille. Der Kollege Wolfgang Meisenheimer weiht sie in das Vokabular von Körperbewegungen und „Architekturgesten“ ein. Mit dem Maler und Designer Hans-Georg Lenzen kreisen sie „Lieblingsplätze“ ein, etwa das Kafenion. Die polnische Innenarchitektin Emilie Matuschek schärft mit zeichnerischen Mitteln den Blick für Räume und Formen.

Last not least: Der Athener Architekt und Stadtplaner Nikitas Patellis verwickelt seine Kursteilnehmer in den „Traum und die Logik der Planung in der Ägäis“. Sie analysieren den „Lebensbehälter“ Siphnos. Realisierbare und utopische Bebauungspläne werden diskutiert. In Patellis' Dunstkreis entstand die Idee mit den Wassertürmen: „Wenn wir Chaos und Traum nicht mehr zulassen, kommt doch nur wieder das alte Nullachtfünfzehn-Schema heraus. Man muß sich diese Türme einmal im Tal bis zum Wasser hinunter im Mondschein vorstellen. Die werden vielleicht die ,Türme der Deutschen‘ heißen.“

Es ist schwer, sich der Magie einer alten Kykladensiedlung zu entziehen: Christoph: „Hier kann man endlich einmal Archetypisches erleben, das ist noch Architektur. Vieles von dem, was an der Hochschule unter Innovationszwang entsteht, erscheint dagegen als Effekthascherei.“ Seine Kommilitonin Marion aus Wien: „Man schaut, geht in sich, meditiert. Oder man untersucht und – staunt.“ Friedrich Christoph Wagner resümiert: „Diese Architektur hat ein menschliches Format. Wenn Sie eine Architekturzeitschrift aufschlagen, finden Sie phantastische Fotos, tolle Zeichnungen und ähnliches, aber keinen Menschen.“

Aus der Ferne haben diese blendendweißen Häuserkuben der Kykladendörfer mit ihren schwarzen Fensteraugen etwas Unwirklich- Schwebendes. Le Corbusier beflügelten sie zu seiner kubistischen Architekturlehre. Doch aus der Nähe zeigen sie, was sie den Menschen sind: enge dämmerlichtige Trutzbunker gegen die sengende Sommersonne, Regenfluten und naßkalte Nordwinde. Vom harten, einfachen Leben geprägt, jenseits von Moden und Stilen. Die Tür ist wieder eine Tür, das Fenster ein Fenster. Und jedes Haus hat seine eigene Masse, wie die Bewohner. Das Maß aller Dinge ist der rechte Winkel, auch wenn er beharrlich verfehlt wird. Die Diagonale ist selten, aber sie befreit: Die Dachtreppen überwinden die Enge der Räume. Und draußen mahnen die sanft ansteigenden Terrassen an den Überlebensweg.

Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle Griechenlands. Für griechische Tourismuskritiker geht es weniger um die Verteidigung der schönen Häuser als um die vitalen Reserven. Sie vermuten, daß die EG die Mittelmeerküsten stillschweigend zur europäischen Umsatzzone für die Freizeitproduktion erklärt habe. Brüsseler Gelder flössen daher vorwiegend in den Ausbau des Verkehrsnetzes und die Denkmalpflege. Wenn die touristische Monokultur weiterwuchere, dürften die einst autarken Insulaner bald ganz am Tropf des Festlands kränkeln. Die Statistik meldet für Griechenland seit fünf Jahren steigende Betten- und um bis zu 20 Prozent sinkende Besucherzahlen.

Die Gastgeber wollten damals nicht glauben, daß die Touristen gerade die einfache Lebensweise und die unberührte Landschaft schätzten. Man wollte es ihnen bequem machen: planierte, elektrifizierte, modernisierte. Und jetzt, wo alles hergerichtet ist für die Fremden – da bleiben sie aus. Verkehrte Welt. Nun stehen die Einheimischen selber wie Fremde im neu möblierten Haus.

Einzig mit „gehobenen“ Individualreisenden und überschaubaren Gruppen werden die griechischen Gastgeber – selber unverbesserliche Individualisten – im Rennen bleiben. Eine Einsicht, die kürzlich auch Ministerpräsident Simitis öffentlich vertrat.

Patellis: „Wir wollen hier kein Disneyland machen. Wie Adorno sagte, es kann keine richtige Welt in der falschen geben.“ Wagner: „Wenn wir versuchen, die Insel in ihrer alten Struktur zu erhalten, dann wird sie 'n Museum, dann werden hier nur noch Privilegierte leben. Aber man kann durchaus im Charakter der bisherigen Architektur alle Probleme ökologisch vernünftig lösen, ohne daß Komfort verlorengeht.“

Gegen den Wassermangel sind die Nachbarn aus Naxos schon früher zu Felde gezogen. Vor allem mit Manolis Glesos, einem bekannten Widerstandskämpfer, der sich seit Jahren als Ökologe engagiert. Unter seiner Leitung und mit europäischer Hilfe entstanden in mehreren Gebirgstälern Staffeln aus kleinen Stauwehren, die das Sturzwasser und den Boden festhalten. Auf Initiative des deutsch- griechischen „Ökologischen Zentrums“ in Naxos wurden hydrologische, geologische und agrartechnische Untersuchungen durchgeführt, bei internationalen Workcamps zahlreiche Terrassen wiederaufgebaut. Tourismus und Landwirtschaft prosperieren auf Naxos nebeneinander.

Der Ägäis-Planer Nikitas Patellis dagegen will das Miteinander. „Agrartourismus“ lautet sein Programm, das Landschaft, Grundwasser, Architektur, Landwirtschaft und damit auch die Menschen schützen soll: Nur der Bauer darf auf seinem Acker Häuser und Fremdenzimmer bauen, der über 50 Prozent seines Einkommens durch Landwirtschaft erzielt. „Der Tourist bekommt frische Eier, Tomaten und Milch direkt vom Hof. Kein Fremder kann sich da einkaufen, es sei denn, er wird selber Bauer.“ Ein Programm, das derzeit mit guten Chancen die griechischen Entscheidungsinstanzen durchläuft. Das Pilotprojekt soll auf Siphnos starten.

Erste konkrete Schritte wurden getan: Ein Spezialist von „Agro- Progress“ aus Bonn fertigte Bodenanalysen an, inspizierte Anbauflächen, traf Gemeindevertreter und Landwirte. Das Institut erarbeitete Vorschläge für eine effizientere Bodennutzung und Produktvermarktung. Eine Hamburger Firma ist mit einem System zur Grundwasserschonung durch Trockenklosetts im Gespräch. Eine Wasserbauingenieurin aus Pforzheim sitzt über einem Plan zur Wassergewinnung und Abwasserentsorgung.

Für die Aktiven ist mit der „Sommerakademie“ die Arbeit nicht beendet. Im Winter werden Studenten und Architekten Besiedelungspläne ausarbeiten, Bausatzungen formulieren, mit Politikern rangeln. Welche Lösung auch immer realisiert wird: Am Anfang steht die Rekultivierung der Terrassen. Sie bleiben auch im medial- digitalen Zeitalter das Grundkapital der Insel, mit oder ohne Tourismus. Bits und Bytes kann man nicht essen. Noch nicht.

Veranstalter: Institut für Gestaltung, Professor Dr. Friedrich Christoph Wagner, Langen Donk 117, 47809 Krefeld, Tel: 02151/545466