„Wir mußten Michael nachts dreimal umziehen“

Gesundheitsamt Augsburg findet in zwei Drittel aller untersuchten Kokosfaser-Matratzen hohe Pestizidwerte. Elternpaar strebt Musterprozeß an. Ihr Sohn ist erkrankt, nachdem er auf einer belasteten Matratze schlief  ■ Aus Augsburg Klaus Wittmann

Vor dem Umweltlabor des städtischen Gesundheitsamtes in Augsburg liegt, recht symbolträchtig, aber rein zufällig, eine Kokosmatratze. Kokosmatratzen sind derzeit auch das Thema schlechthin in dieser städtischen Einrichtung. Eher ungewollt hat das Umweltlabor der Stadt für zahlreiche Eltern in Deutschland enorme Bedeutung erlangt.

Hier wurden nämlich serienweise Matratzen aus Kokosfasern untersucht, siebzig an der Zahl. Auslöser dafür war die Familie Volk aus einem Augsburger Nachbarort. Gut ein halbes Jahr nach der Geburt des ersten Sohnes begann für die Familie die Tortur. „Michael hatte plötzlich ganz massive gesundheitliche Störungen“, erzählt seine Mutter. „Husten, Infekte, Augenreizungen, Brechreiz, Hautausschläge, starkes Schwitzen. Ich mußte ihn dreimal nachts umziehen.“ Der Kinderarzt war ratlos, verabreichte Antibiotika – vergeblich. Eines Abends sah dann die Oma des Buben in einer Fernsehreportage, daß es auch bei anderen Kindern ähnliche Symptome gibt, ausgelöst angeblich von verseuchten Kokosmatratzen.

Karin Volk reagierte sofort, als die Oma das erzählte. Sie schaffte die vermeintlich so gesunde Kokosmatratze ins Augsburger Umweltlabor und sie staunte nicht schlecht, als sie dort erfuhr, daß 126 Mikrogramm Lindan pro Kilogramm gemessen wurden, außerdem noch 139 Mikrogramm Pentachlorphenol, kurz PCP. Spätestens seit dem Holzschutzmittelprozeß lassen diese Chlorpestizidwerte die Alarmglocken schrillen. Bei Michael kam es, kaum daß die Matratze entfernt war, zu einer „drastischen Symptomverbesserung“, attestieren sein Kinderarzt und das Bad Emstaler Institut für Umweltkrankheiten.

Beim Umweltlabor war man hellhörig geworden, testete in der Folge weitere Matratzen. „Von diesen siebzig Matratzen waren nur sechs völlig unbelastet“, erläutert der Diplom-Chemiker Thomas Gratza. Weitere elf Matratzen waren leicht kontaminiert (unter 100 Mikrogramm/kg). Über die Hälfte aber kamen auf Werte zwischen 100 und 1.000 Mikrogramm und fünfzehn Prozent gar auf über 1.000 Mikrogramm.

Die Familie Volk strebt jetzt einen Musterprozeß vor dem Augsburger Landgericht an. Doch vorher sind noch einige Hürden zu überspringen. Weitere Gutachten müssen erstellt werden, die Grenzwertdiskussion ist entfacht.

Wo für Matratzen der definitive Grenzwert für die in Deutschland verbotenen Chlorpestizide liegt, vermag nämlich niemand so genau zu sagen. Bei Teppichböden wird das Umweltsiegel der GuT (Gemeinschaft umweltfreundlicher Teppichboden e. V.) nur verliehen, wenn die Chlorpestizide (u. a. Lindan) maximal bei 1.000 bis 1.500 Mikrogramm liegen, die PCP- Werte unter 100 Mikrogramm. Bei Babykleidung sind es gar nur 50 Mikrogramm. Für Matratzen gilt nach Angaben von Matratzenherstellern der Öko-Tex-Standard, der sowohl bei Lindan als auch bei PCP maximal 500 Mikrogramm vorsieht. Ein anderer Standard ist das vom TÜV-Rheinland vergebene Prüfzeichen „Toxproof“. Auch hier werden an Babykleidung strenge Auflagen geknüpft: Grenzwert 50 Mikrogramm.

Mit einem der führenden Kokosmatratzenhersteller wird derzeit an der Vergabe des „Toxproof“ für die Matratzen gearbeitet. 500 Mikrogramm werden auch hier für vertretbar gehalten. Schließlich, so der zuständige TÜV-Fachmann Ansgar Wennemer, sei der Kokoskern von anderen Materialien ummantelt. „Eigentlich sehen wir von der toxikologischen, von der Gefahrenseite her, keinen Unterschied, ob das 50 oder 500 Mikrogramm sind.“

Andere Kollegen sehen das ganz anders. Beim Bundesgesundheitsministerium verweist man an das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, einer Nachfolgeorganisation des einstigen Bundesgesundheitsamtes (BGA). Auskunft dort nach hausinternen Recherchen: Mit PCP und Lindan in Matratzen habe man sich überhaupt noch nicht befaßt, auch international habe man bislang noch keine Notwendigkeit gesehen, eine klare Definition vorzunehmen. Gültig sei daher die Chemikalienverbotsverordnung aus dem Jahr 1989 und die sieht generell einen Grenzwert von 5.000 Mikrogramm für PCP und Lindan vor, ganz unabhängig vom Ausgangsmedium.

„Viel zu hoch“, wettern Toxikologen, wie beispielsweise der Kieler Spezialist Otmar Wassermann (siehe Interview). Einer der Marktführer von Kokosmatratzen, der nicht zitiert werden möchte, erklärt, daß man einen „Wert null“ anstrebe. Von den Vorlieferanten könne dies jedoch bedauerlicherweise oft nicht eingehalten werden. In den letzten Jahren habe man die Werte dennoch deutlich drücken können, inzwischen könnten die für den „Toxproof“ erforderlichen Grenzwerte von 500 Mikrogramm weitestgehend eingehalten werden. Dann folgt der Verweis auf das TÜV-Argument: Der Kokoskern werde ja ummantelt.

Doch die Familie Volk, die die gemessenen Werte von 126 beziehungsweise 139 Mikrogramm schon für viel zu hoch hält, will sich damit nicht zufrieden geben. Solange es noch kein rechtskräftiges Urteil gibt, bleiben die besorgten Eltern die Dummen. Karin Volk hat sich daher entschlossen, eine Art Initiative für Kokosmatratzengeschädigte ins Leben zu rufen. Empört fordert die Mutter „endlich staatliche Unterstützung“. Der Grenzwertewirrwarr dürfe nicht länger hingenommen werden.