Das Portrait
: Der chinesische Nelson Mandela

■ Wei Jingshen

Die chinesische Regierung dürfte die Entscheidung des Nobelkomitees in Oslo gestern mit Erleichterung aufgenommen haben. Noch am Vortag hatte sie davor gewarnt, den Friedensnobelpreis dem inhaftierten Dissidenten Wei Jingsheng zu verleihen und diesen als einen „Kriminellen“ bezeichnet. Wei galt als einer der Favoriten unter den 120 Einzelkandidaten für die Auszeichnung. Der 46jährige Wei ist wegen seines Einsatzes für die Demokratie in China seit 1979 mit Ausnahme von sechs Monaten ständig in Haft. Der wohl bekannteste Menschenrechtler Chinas wurde zuletzt im Dezember 1995 zu vierzehn Jahren Haft verurteilt, wegen einer angeblichen „Verschwörung zum Sturz der Regierung“. Dies zeigt, wie sehr Peking die Aktivitäten des Mitbegründers der Demokratiebewegung der Jahre 1978/79 fürchtet.

Wei, damals 29 Jahre alt, war 1979 als einer der prominentesten Vertreter des „Pekinger Frühlings“ erstmals verhaftet worden. Nachdem Mao Tse-tung 1976 gestorben war, begann China, sich zu öffnen. Wei arbeitete damals im Pekinger Zoo und gab gemeinsam mit anderen die Dissidentenzeitschrift Erkundungen heraus. Doch ging er in seiner Kritik des chinesischen politischen Systems weiter als andere. Die meisten Dissidenten setzten noch auf die Erneuerungsfähigkeit der Partei. Wei griff Chinas starken Mann Deng Xiaoping persönlich an, der es nicht zulassen wollte, „daß das Volk die Macht, die Karrieristen und Cliquen von Karrieristen an sich gerissen haben, zurückerobert“, wie er schrieb. Die Rache der Parteispitze kam schnell: Als einer der ersten Vertreter der Demokratiebewegung wurde Wei in einem Schauprozeß zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Doch das brachte ihn nicht zur „Einsicht“. Kaum wieder auf freiem Fuß, wurde er am 1. April 1994 erneut verhaftet, nachdem er sich mit einem US-amerikanischen Menschenrechtler getroffen hatte. Der Prozeß dauerte fünfeinhalb Stunden und fand hinter verschlossenen Türen statt.

In jenen sechs Monaten, in denen Wei sich in Freiheit befand, scharten sich Dissidenten um ihn und betrachteten ihn als ihren Nelson Mandela. „Chaos ist möglich“, sagte Wei 1994, „dafür gibt es Anzeichen. 99 von 100 Funken kannst du austreten, aber wenn du den letzten nicht erwischst, entzündet er das Feuer.“ taz