Tür aufhalten fürs neue Jahrtausend

Der Thunfisch schmeckt wieder, Geldverdienen hilft immer, und beim Abwasch wechselt man sich ab: Die Zukunftskonferenz „Millennium“ suchte neue Werte auf allzu ausgetretenen Wegen  ■ Aus Kassel Heide Platen

Mittags Lachs satt, abends Lachs satt, das ist zwar nicht mit dem Hering nach der Pellkartoffel geschmissen, aber durchaus political correct. Denn, sagte ein Funktionsträger, ehe er mit solchermaßen beruhigtem sozialen Gewissen herzhaft zulangt: „Lachs frißt doch heute schon jeder Pöbel.“

Daß auch der Thunfisch im Salat wieder ohne tierschützerische Skrupel verspeist werden darf, war informell bei Tisch zu erfahren und gehört zu den guten Nachrichten dieses ausgehenden und des beginnenenden neuen Jahrtausends. Buchautor Michael Miersch trug während der „Millennium-Tage Kassel 1996“ sein Mäppchen mit den positiven Nachrichten aus der Umwelt eng bei sich. Der Beifang der possierlichen Delphine der Thunfischflotten, meldete Mexiko jüngst, sei um 96 Prozent gesunken. Überhaupt, murmelt Miersch zwischen Thunfisch und Lachs, sind die knopfäugigen Naturschutzflaggfische selber ganz schön gemein. In der guten Natur drangsalieren die Biester arme, kleine Schweinswale und beißen Menschen, die unbedingt Delphine streicheln wollen.

Die Zukunftskonferenz zum „Comeback der Werte“ widmete sich für 500 Mark Teilnahmegebühr diese Woche zwei Tage lang den Menschen, jahrtausendwendeschwanger: „Ethik und Moral des 21. Jahrhunderts“. Den weltweiten Folgen der Globalisierung der Arbeitsmärkte, der Umweltzerstörung, mangelnden Gemeinsinns und allerlei sonstiger Unbilden des realen Kapitalismus saß ein Publikum gegenüber, das sich Hoffnung und Perspektiven versprach.

Daß die Lehre von der Sittlichkeit und die Zahlungsmoral durchaus zweierlei sein können, beschäftigte die rund 300 Versammelten ganz jenseits des eigenen Tuns. Wer eigentlich, fragten sie sich in den Pausen gegenseitig ab, habe die 500 Mark Eintritt tatsächlich aus eigener Tasche bezahlt? Das Sechstel JournalistInnen, das Erkenntnisinteresse und Arbeit zu verbinden weiß, ganz gewiß nicht. Die geladenen Gäste aus der Kommunalpolitik auch nicht. Und selbstverständlich auch nicht die Banker und Firmenangestellten, deren Betriebe die offene Rechnung beglichen. Wer selber zahlt, versicherte man sich augenzwinkernd ganz ideologiefrei, ist auch selber schuld.

Matthias Horx, Organisator der Kasseler Konferenz und Setter im Hamburger Trendbüro, trat zur Eröffnungsrede am Dienstag mittag so schmal, schwarz und ernst an wie ein Bestattungsunternehmer. Das mußte er wohl auch vor einem Forum, dem er vorab die allgemeine Zukunftsangst prognostizierte. Dagegen helfe nur die Zukunftskultur und -hoffnung, „aufgeklärte Futurologie“, die sich steigern könne im günstigen Fall zu „prophetischer Leistung“.

Und die sollte nach dem Willen der Veranstalter in drei Salons erbracht werden. Was ein Abschweifen zur Architektur des Veranstaltungsortes zuläßt: Das Gebäude der Energie-Aktiengesellschaft- Mitteldeutschland am Rande des Habichtswalds ist erbaut in einem Stilmix mit moralischem Anspruch. Die Kantine hängt im ersten Stock, rundherum viel Glas, gehalten von konkaven Metallkreuzen, wuchtig wie in einem Kirchenneubau der fünfziger Jahre. Die Außenfenster sehr sakral, bunt und milchglasig. Im Foyer eine gläserne Treppe wie zum verheißenen Märchenschloß. Die Atmosphäre des Salons, des ebenso gepflegten wie aufklärerischen Diskurses, ist bei so funktional lichtdurchfluteter Einsehbarkeit – das hatte Horx ganz futurologisch vorausgesehen – nur schwer herzustellen.

Gleichwohl sitzt Horx dem Salon 1 selbst als Moderator vor. „Mehr Moral Marketing? oder Kann ein Unternehmer ,gut‘ sein?“ ist hier die Frage. Auf dem Podium nuschelt der Begründer einer Bio- Fast-food-Kette mit dem Innovationsprodukt Tiefkühlkost vor sich hin. Daneben sitzt ein Vertreter der österreichischen Bio-Food-Marke „Ja-natürlich“ und ist ganz und gar nicht imstande, Laien zu vermitteln, was er eigentlich tut. Dann redet sich die ökologisch bemühte Textilunternehmerin Britta Steilmann in haspelndem Tempo durch ihr Firmenkonzept.

Die UnternehmerInnen sind eher unter sich als in einem Salon. Selbstdarstellung auf Selbstdarstellung, die Diskussion stockt. In Bewegung, in Fluß gar kommt hier nichts. Der Mann von Volkswagen findet das „lahmarschig“. Die Öko-Optimisten Miersch und Maxeiner erklären währenddessen, daß auch Greenpeace hierarchisch strukturiert ist und Unternehmer nicht immer schlecht sind.

Die auf dem Podium und die im Auditorium allerdings wollen nicht nur ausnahmsweise, sondern unbedingt gute Menschen sein. Und das soll zum einen Geld bringen, zum anderen Spaß machen. Nur ewiggestrige Deutsche, so ihr Credo, wollen das nicht einsehen. Die Berichterstatterin betrachtet die reihenweise grauen und schwarzen Socken der männlichen Teilnehmer. Auch eine gute Nachricht: kein einziges Paar weiße dabei.

Im Salon 2 spricht der Hoffnungsträger aus den USA: Professor Amitai Etzioni hat seine Fangemeinde. Die hofft auf den Kommunitarismus, was übersetzt wohl Gemeinsinn meint. Auch Hillary daheim mag ihn.

Etzioni, ganz liebenswerte Naivität, nimmt die Ovationen hin, freut sich ganz herzlich, und berichtet aus seiner Ehe. „Sense of fairness“ sei, wenn er das Geschirr spüle, „wash the dishes“, obwohl er das gar nicht gerne tut.

Solche Freiwilligkeit, das weiß Etzioni sicher, sei mit Staatsmacht und Polizeigewalt nicht durchzusetzen. In Deutschland bewundert er die freiwillige Feuerwehr. Ansonsten aber hinterläßt der Amerikaner den Eindruck, daß ihn die freiwillige Abwaschvereinbarung in seiner Zweierbeziehung mehr beschäftigt, als beispielsweise jene großen Netzwerke in den USA, von denen er seinem deutschen Publikum immerhin auch berichtet, die das Geld abschaffen und Leistung tauschen: Die Wahlfamilien mit neuem Gemeinschaftssinn schöpfen „value“, indem sie denen helfen, die mangels Masse nichts zum äquivalenten Tausch beitragen können.

Am Morgen des zweiten Tages wird die Kasseler Kulturdezernentin ernsthaft sauer. Sie habe sich, klagt sie, hier eigentlich Antworten „auf Jahrhundert- und Jahrtausendfragen“ erhofft. Den neuen Faschismus, den islamischen Fundamentalismus sieht sie drohend „vor der Tür“ und teilt dann ausgerechnet dem amerikanischen Professor ihre tiefste Sorge mit: „Was ist, wenn Mercedes aus Europa weggeht?“

Der Hannoveraner Philosoph Peter Koslowski bescheidet all diese drängenden Fragen – einschließlich des nach dem mangels ökologischen Handelns drohenden Untergangs der Menschheit – nicht so lösungsorientiert tellerwaschend wie Etzioni: „Der Erhalt der Menschheit ist nicht das Grundprinzip der Moral.“ Dieses Kriterium sei schlicht „windiger Hypermoralismus“, der mit Menschheit immer nur die jeweils betroffenen Individuen meine: „Wie viele sollen überleben?“

Da kommt es zu vereinzelten kleinen Fluchten aus dem „Millennium“-Salon: ab durch die Drehtür und in die Herbstsonne. Ein kleiner Mann räsonniert, nachdem er nun auch räumlich zu all den Gutmeinenden drinnen auf Distanz gegangen ist: „Kapitalistisches Handeln ist kein sittliches Tun. Das Motiv ist, sich zu bereichern. Die Konkurrenz ist dem Kapital doch inhärent!“ Und fragt ganz ratlos-dialektisch: „Was soll denn der arme Unternehmer machen? Das Bilden von Monopolen ist einerseits anrüchig. Aber richtig verdienen läßt sich erst, wenn die Konkurrenz ausgeschaltet ist. Nur, auf Dauer stellt das das System in Frage: Das ist ein Dilemma.“

Warum aber schicken Firmen ihre Angestellten zu solchen Veranstaltungen? Vielleicht, antwortet der Mann versonnen, weil Sinnkrisen auch Manager erfassen: „Die Fiktion ist, daß sich der Tüchtige durchsetzt, so wie der ehrsame Kaufmann auf dem Markt, wo jeder auf engem Raum Angebot, Qualität und Preis vergleichen kann.“ Nur mögen wohl besonders die Deutschen nicht glauben, daß die Glückseligkeit aller durchaus vereinbar, gar gut aufgehoben ist bei den wenigen, die reich und gute Menschen sind. Da muß man sich dann – wie hier in Kassel – wenigstens gegenseitig seines guten Willens versichern.

Und zum Glück sitzt im Salon 3 denn auch der Sylter Pfarrer Traugott Giesen. Denn der hält die Menschen per se für gut. Dieser Salon zum Thema „Ethic Lifestyle“ findet im kleinsten Saal statt und ist schon deshalb an beiden Tagen drangvoll überfüllt. „Gibt es ein Comeback moralischer Lebensführung?“ Das interessiert, und es wird debattiert und geplaudert und bis zum Delirieren sinniert, wer denn nun die alten Werte zerstört habe. Die „68er“ oder der Kapitalismus? Oder beide? Oder keiner?

Und da steht stundenlang ein schwarzgewandeter junger Mann an der Tür und übt gleich mal die „Neue deutsche Etikette“ nach der Gebrauchsanweisung der Podiumsdiskutantin und Publizistin Cora Stephan: Unerbittlich hält er allen Hinein- und Hinausschreitenden die Tür auf. „Respekt & Freiheit“ steht auf einem Schildchen an seinem Hemdsärmel.

In allen von uns steckt schließlich ein Hausmeister, so oder ähnlich muß das irgendein Kabarettist irgendwann schon mal gesagt haben. Der Türsteher in Kassel hat ihn rausgelassen: „Deutschland ist ein supertolles Land. Es wird sehr selten jemand umgebracht. Die Männer schlagen ihre Frauen nicht oft. Uns geht es gut!“ Alles andere sei „abgehobenes Gerede: „Wir haben eine Schatztruhe voll Ethik. Uns fehlt nur der Stolz.“