Browning, Lippenstift und Spiegel ...

Doppelte Verblüffung beim Festival d'Automne in Paris: Der Welttheaterregisseur Peter Brook inszenierte den einst geringgeschätzten Samuel Beckett, und zwar als einen letzten großen bürgerlichen Schriftsteller  ■ Von Nikolaus Müller-Schöll

Als Peter Brook in seinem Manifest „Der leere Raum“ 1968 zum Rundumschlag gegen das „tödliche“, das „langweilige“ Theater ausholte, da landeten auch die Klassiker des Absurden in der Ecke. Die Absurden, so mutmaßte der Propagandist des grausamen Theaters damals, hätten „Artaud nicht mehr befriedigt als die Enge des psychologischen Stückes“. Nur eineinhalb Jahrzehnte, nachdem mit Becketts „Warten auf Godot“ in den Theatern die Moderne begonnen hatte, und nur wenige Jahre, nachdem Theodor Adorno in seinem „Versuch, das Endspiel zu verstehen“ noch verkündet hatte, Verstehen könne hier „nichts anderes heißen, als seine Unverständlichkeit verstehen“, war vom großen Ereignis nichts mehr geblieben.

Wohlfeile Kritikerstereotypen von der beckettschen „Unabänderlichkeit der Dinge“, vom radikalen Bruch „mit allen überkommenen dramatischen Strukturgesetzen“ antworten seither auf ebenso wohlfeile Reproduktionen der immergleichen, ach so absurden Dialoge. Beckett im Theater – das hat den Beigeschmack von Nierentisch und Witzen „Ohne Worte“. Nirgendwo nistet das tödliche Theater heute so hartnäckig wie hier. Dem zum Trotz hat sich Peter Brook nach seinen szenischen Forschungsreisen ins außereuropäische Theater, nach den Experimenten mit den Rändern der Normalität und den Normen des theatralischen Spiels nun doch dieses Klassikers der Moderne angenommen. Mit seiner Inszenierung der „Glücklichen Tage“ zog er erst durch die Festivals in der Provinz und eröffnete jetzt das 25. Pariser Herbstfestival.

Beckett, so schreibt Brook auf dem Programmzettel, sei sein ganzes Leben lang mißverstanden worden. Zu Unrecht habe man ihn immer mit den Etiketten des Absurden und des Pessimisten versehen und als einen Avantgardeautor gelesen, der Theater für einige wenige Intellektuelle mache. Heute, da seine Stücke auf der ganzen Welt gespielt werden, selbst noch in amerikanischen Gefängnissen oder im belagerten Sarajevo, sehe man aber, daß an den alten Vorurteilen nichts dran sei: „In seinen Stücken nimmt man an einem Fest teil, wie das einst bei der antiken Tragödie der Fall war. Poesie, Noblesse, Schönheit, Magie – dank dieses einzigartigen Autors haben wir plötzlich das Recht, diese Werte im Theater wiederzufinden.“ Das ist der Enthusiasmus eines Lesers, dem es soeben gelungen ist, aus dem Bekannten den Funken des Neuen zu schlagen. Dieses Neue hat zunächst die Züge des Uralten. Denn nur für einen Moment wird der Zuschauer in den „Bouffes du Nord“ noch daran erinnert, daß er hier an einem der Orte sitzt, an denen die Geschichte der großen Theaterexperimente dieses Jahrhunderts fortgeschrieben wurde: Im Halbdunkel betreten Natasha Parry und François Berté die Bühne und warten, bis das Licht ab- und dann wieder aufgeblendet worden ist. Ein offener Anfang, ein fließender Übergang vom Vorspiel zur Szene, eine Darstellung der Konstitution des Bühnenspiels, die so selbstverständlich wirkt wie in anderen Theatern der Vorhang.

Spätestens aber, wenn das Licht auf die Spieler fällt, glaubt man sich zurückversetzt in die Tradition des 19. Jahrhunderts. Brook folgt in seiner Inszenierung Becketts Szenenanweisungen so genau wie ein Musiker der Partitur. Um so befremdlicher wirken in dieser fixierten Umgebung die Darsteller: Natasha Parry, die (wie vorgeschrieben) bis zur Hüfte im aufgehäuften Wüstenhügel der Bühne von Chloé Obolensky steckt, paßt so gar nicht in die sterile, asexuelle und irgendwie clownesk wirkende Welt des Endzeitspiels von Winnie und Willie, die Unterhaltung dieser über- oder unterirdischen letzten Menschen.

Ihr nur wenig überschminktes Gesicht ist vom Leben gezeichnet, Licht und Schminke akzentuieren ihre großen Augen, ihre Haare wuchern wild. Neben dem zierlichen François Berté wirken ihre Arme männlich: Die beiden könnten der untergehenden Bourgeoisie eines Tschechow angehören oder ihre Rollen in den Psychodramen eines Strindberg spielen. In jedem Fall sind es Darsteller der Stanislawskischen Einfühlungspsychologie, keine Akteure, die man sich in Becketts reduktionistischem Duett vorstellen kann.

Doch dieser erste Eindruck ist das Resultat einer kalkulierten Irreführung. Tatsächlich läßt Brook nicht einfach psychologisch spielen, er treibt vielmehr mit dem psychologischen Guckkastentheater sein Spiel. Er pfropft dem überkommenen Theater das Beckettsche Endspiel auf und beleuchtet dadurch Theater wie Stück ganz neu. Das Neue, das Brook bei Beckett entdeckt, ist dessen Spiel mit den klassischen Gesten. Der ganze Kanon wird bei Beckett durchgespielt, freilich bloß en miniature. Browning, Lippenstift, kleine Handspiegel und Regenschirm – die Utensilien, die Winnie aus einer unbekannten Vergangenheit verblieben sind – sind zugleich Allegorien des Beckettschen Schreibens. Beckett ist ein Lumpensammler der besonderen Art: Er zerstört den Kanon und bewahrt die Fragmente gleichzeitig auf.

Vom großen Ehedrama des Fin de siècle ist nicht mehr als die sadomasochistische Geste der starken Frau geblieben, die mit dem brennenden Regenschirm nach ihrem Mann wirft. Von der antiken Tragödie ist nur die Peripetie geblieben, die Revolution, der Wendepunkt, den Beckett in Permanenz vorführt. Seiner Darstellung ist Brooks Inszenierung gewidmet. Ihr Gelingen ist das Verdienst Natasha Parrys. Noch einmal führt sie das ganze Register des psychologischen Theaters vor, und doch scheint jeder Gefühlszustand bereits mit dem Wissen um seine Dargestelltheit befrachtet zu sein. Mal ist die Parry ein junges Mädchen, dann eine alte traurige Frau, dann wieder ein schnatterndes Weib, eine zärtlich liebevolle Ehefrau oder ein Vamp – doch nie verfestigt sich eines dieser Bilder zum Charakter, immer bleiben es Masken, Wellen, die sich aneinander brechen. So wird der Theaterabend in den Bouffes du Nord zur kongenialen Darstellung eines minimalistischen Theaters der Zitate.

1968 mißtraute Brook dem Theater der Worte und forderte, wir müßten durch eine „Periode der Bildersättigung“ gehen, „damit sich der Bedarf nach Sprache wieder einstellt.“ Jetzt, nach der Sintflut der elektronischen Bilder, scheint er sein Theater in eine Arche umzubauen, ein kleines Rettungsboot für einen „Kanon“, der längst keine Angelegenheit elitärer Bildungszirkel mehr ist.

Daß Beckett lange Zeit als der Repräsentant der Moderne, des neuen, vom Ballast und von der Magie der tückisch verzauberten Vergangenheiten befreiten, radikal destruktiven Theaters, erschien, wird einem im Verlauf dieses Abends immer unverständlicher. Denn Brook zeigt Beckett in der Tat als einen letzten großen bürgerlichen Schriftsteller, der noch an das Glück der Gesten und Worte glaubt, an die Möglichkeit, sie für eine andere, mag sein bessere, Welt aufzubewahren – und sei es nur als Chiffren der Unlesbarkeit dieser heutigen Welt.

„Oh les beaux jours“ von Samuel Beckett, Regie: Peter Brook. Bis 2.11., Di.–Sa., 20.30 Uhr, Théatre des Bouffes du Nord, Paris