piwik no script img

Richtungsoffener Geheimniszustand

■ Morgen beginnt das international besetzte Poetry Festival in Hamburg

In den Zimmern des Marriot-Hotels schwebt dieser Tage ein poetischer Geist, denn viele der 20 Lyriker und Lyrikerinnen, die von Mittwoch bis Freitag beim Poetry Festival lesen werden, übernachten dort. Aber es ist kein kollektiver Geist, der sich in elegisch glitzernden Endlossätzen, in getexteten Kalauerschnipseln oder im geheimnisvollen Einfangen elementarer Empfindungen äußert. Jeder Dichter ist heute Held seiner eigenen Poetik, ist mit seiner eigenen Stilwerdung nicht minder konfrontiert als mit dem, was ihm von der Tradition vorgegeben wurde oder was ihm sein Lebensumfeld an poetischer Be- und Verarbeitung anbietet. Die dänische Lyrikerin Inger Christensen spricht, nach ihrer inneren Poetik befragt, von einem „richtungsoffenen Geheimniszustand, einer unmittelbaren Verlängerung der Natur“. Die renomierte Lyrikerin liest am Mittwoch (20 Uhr) im Literaturhaus und wird begleitet von Uwe Kolbe, Oliver Platz und der lettischen Lyrikerin Amanda Aizpuriete, die illusions- und schnörkellose Notate beschwerlichen Lebens zu Papier bringt: „Tauwetter, Schlaflosigkeit, Regen. / Die Augenzeugen? Ergraut. / Die Bushaltestelle verlegt an einen anderen Platz.“

Zeitgleich werden in der Halle K (Klosterwall 13) Matthias Göritz, Lew Rubinstein und Adam Zagajewski das Festival eröffnen. Letzerer gilt als bedeutendster Autor der polnischen 68er-Generation. Seine Gedichte werden ins Deutsche von Karl Dedecius übersetzt, der auch die frisch gekürte Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska überträgt. Ehemals als zorniger Realist verschrien, schreibt Zagajewski heute schlichte, auf das einsame Wort konzentrierte Gedichte.

Die Idee zu diesem Festival hatten einige Hamburger Lyriker, die sich zum Verein LyriKran zusammengeschlossen haben. Einer von ihnen, Mirko Bonné, wird am Donnerstag (15 Uhr in der Stiftung Alsterdorf, 21 Uhr in der Halle K) lesen. Abends werden neben ihm Sujata Bhatt (Indien/Bremen), Terry Mc Donagh (Irland), Robert Gernhardt, Matthias Politicky und Raoul Schrott ihre Gedichte vortragen.

Seinen Abschluß findet das Festival mit einer lyrischen (Freitag)Nacht im Literaturhaus. Gezeigt werden wird der Experimentalfilm Poets von Harald Bergmann, in dem Texte von Rimbaud und Artaud in schnelle, musikalisch aufgeladene Bilder übersetzt werden. Live auftreten werden die Vokalartistin Isabeella Beumer sowie vier Lyriker und Lyrikerinnen: Der in Berlin geborene Peter Waterhouse geht in seinen begriffsauflösenden Satzwindungen gelebten Metaphern und der Natur in uns aus dem Wege. Der englisch schreibende Naturlyriker Michael Hamburger läßt sein lyrisches Ich von Tälern, Flüssen und Gebirgen wie von Bernstein umschließen. Der iranische, in Hamburg lebende Arzt und Lyriker Fahrad Sowghi setzt auf die Stille zwischen den Versen, aber auch auf das Allgemeingültige. Und die in der Slowakei geborene, deutschsprachige Lyrikerin und Marguerite-Duras-Übersetzerin Ilma Rakusa hat immer ein Wortspiel parat: „Deine Stimme kratzt mich wund / nicht ungeschoren fall ich dir ins / Herz das Kind in uns versehrt / verscherzt der Mund ...“ Stefan Pröhl

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen