Rock gegen Alpträume

In den vergangenen vier Jahren hat sich in Berlin eine Szene junger Leute aus Exjugoslawien gebildet. Musik und die Ablehnung der Kriegstreiber verbindet sie  ■ Von Frank Hofmann

Unter der Theke des Arcanoa im Berliner Bezirk Kreuzberg dreht sich die rote Kunsthandwerklampe, als ob eine Alarmanlage angegangen sei. Es ist Freitag abend, und eigentlich könnte es einer jener Partyabende werden, wie sie hier schon oft stattgefunden hatten in den vergangenen drei oder vier Jahren, als in Bosnien- Herzegowina die Granaten flogen und Robert, Sasa und Suljo und all die anderen versucht haben, sich zu betrinken – in Gesellschaft mit Leuten, die das eigene Schicksal verstanden haben. „Wir saßen in den vergangen Jahren meistens ganz hinten, wo die Kneipe ein wenig wie zu einer Höhle wird“, erzählt Robert.

„Dort haben wir uns immer getroffen, wenn es unten geknallt hat – um zusammenzusein, um nicht daran zu denken – und vielleicht doch daran zu denken.“ Die Kerzen in den Kneipenecken hatten etwas von der Kriegsbeleuchtung in Sarajevo, wo sich die Menschen in Kellern versteckten.

Robert, der 28jährige Taxifahrer, lebt seit sechs Jahren in Berlin und war einer der ersten, der hier jugoslawische Rock- und Punkmusik aufleben ließ. „So vor drei oder vier Jahren kamen dann irgendwann einmal immer mehr junge Leute aus Exjugoslawien hierher. Deserteure, Menschen, die mit der ganzen Scheiße nichts am Hut haben wollten.“ Die Musik hat angezogen. Das Ambiente – mitten unter Kreuzberger Künstler-, Musiker- und Säuferexistenzen – hat gestimmt. „Ick steh' auf Berlin“ wurde zum immer mitschwingenden Motto. „Den meisten ging es vor allem auch darum, diesen nationalistischen Wahnsinn nicht anhören zu müssen.“ Hier spielt die Religion keine Rolle – ganz anders als in so manchen Normalokneipen, die sich früher „jugoslawisch“ nannten und heute plötzlich „kroatisch, serbisch oder bosnisch“ nennen.

Heute ist die Stimmung im Arcanoa gedämpft, und soviel steht fest: Es wird nicht ein Partyabend wie jeder andere. Die Tresenlampe wirft ihr rotes Licht unaufhörlich, während Sasa vom DJ-Balkon grüßt; mit einer Flasche Beck's aus den beiden Kästen, die er eben spendiert hat. „Er macht eine Abschiebungsparty“, sagt Suljo und versucht dabei zu lachen, doch mehr als nach oben verschobene Mundwinkel kriegt er nicht hin. Abschiebung. Spätestens seit zwei Wochen ist dieser Begriff aus dem Wortschatz eines in Berlin lebenden Deserteurs aus Exjugoslawien nicht mehr wegzudenken.

Sasa ist Muslim und kommt aus Bosanski Brod, mitten im serbisch kontrollierten Teil Bosniens. Am 3. November solle er die Bundesrepublik verlassen, wurde ihm heute schriftlich mitgeteilt. „Doch eine Rückkehr dahin geht einfach nicht“, unterstreicht Suljo, was eigentlich alle wissen. „Wie soll das denn gehen?“ 60 Prozent des Landes zerstört, das gesamte Territorium in unnatürliche, nationale Zonen eingeteilt, die von Wahnsinnigen beherrscht würden, so einfach wie passend die kurze Erklärung der meisten über den Stand der Dinge in Bosnien-Herzegowina.

Seit 1994 lebt der 30jährige bosnische Muslim in Berlin, nachdem er aus dem nordbosnischen Banja Luka, der größten Stadt in der sogenannten „Serbischen Republik“, geflohen war. „Damals haben die bosnisch-serbischen Milizen mobilisiert, aber ich konnte rechtzeitig abhauen.“ In Belgrad hatte die serbische Polizei zu diesem Zeitpunkt bereits in Flüchtlingskneipen nach Deserteuren aus Bosnien gefahndet, um sie den serbischen Waffenbrüdern in Bosnien zu überstellen.

Auf der anderen Seite war die bosnische Regierungsarmee mitten in einer Großoffensive. Suljo erinnert sich: „Seit meiner Ankunft in Berlin habe ich dann immer wieder darüber gesprochen, zurückkehren zu wollen“, sagt er, und seine 22jährige Freundin Danijela ergänzt: „Wir haben alle immer wieder gesagt, daß wir zurück wollen, sobald der Frieden da ist.“ Doch daß dieser Friede dann so aussehen würde wie jetzt, „das hat keiner gedacht“.

Abschiebung. „Was da unten jetzt entstanden ist, hat nichts mehr mit dem Land zu tun, in dem ich einmal aufgewachsen bin“, meint ein anderer. Die vergangenen zwei, drei oder vier Jahre in Berlin dafür um so mehr. „Hier ist schon etwas gewachsen, denke ich. So etwas wie eine Szene, eine relativ große Anzahl von Leuten, die in ein paar wenige Kneipen gehen, wo sie vor allem ,ihre‘ Musik hören können“, präzisiert Robert, der Taxifahrer. Aus den Boxen dröhnt „Sarajevo feeling“ von Protest, einer Punkband aus der bosnischen Hauptstadt, die während des Krieges in Sarajevo geblieben waren. Aus dem Sarajevo- Feeling ist für viele das Lebensgefühl Berlin geworden. Und zu dem gehört die Musik von exjugoslawischen Gruppen wie Kud Idijoti aus Pula (Kroatien) oder den Partibrejkers aus Belgrad genauso wie all die Klänge, die aus den Clubs zwischen Oranienstraße (West-) und Oranienburger Straße (Ostberlin) klingen.

„Ich denke, die meisten, vor allem jüngere Leute, möchten gerne hierbleiben.“ Mit dem nationalistischen Wahnsinn, dem Geldabzocken der Kriegsgewinnler und dem Handauflegen der politischen Klassen – egal in welchem Teil Bosniens – kann Suljo genausowenig anfangen, wie er den hastigen Willen der CDU- und CSU- Rechtsaußen zur Abschiebung noch vor dem Winter verstehen kann.

„Das ist doch kompletter Wahnsinn“, sagt der 19jährige Vedran. Derjunge Bosnier, ebenfalls aus Banja Luka, war auch 1994 nach Berlin gekommen, „nachdem hier bereits mein Bruder war“. Vedran rückt sich seine gepolsterte schwarze Lederjacke zurecht und erzählt. Sein Bruder habe sich früh in Berlin verliebt – und geheiratet, seine Existenz hier ist gesichert. Vedran hingegen hat niemand dergleichen gefunden. Er konzentriert sich viel mehr auf das Musikmachen. „Wir haben uns den Namen Smells Rotten gegeben“ – weil das Ganze einfach nur noch stinke. Mehr als zwei Jahre hat es der junge Bosnier gemeinsam mit seiner Familie noch in Banja Luka ausgehalten. Der Vater Muslim, die Mutter Kroatin – eigentlich waren die beiden als gemischtes Ehepaar schon von Beginn der „ethnischen Säuberung“ des Kriegsverbrechers Karadžić Kandidaten für den Rausschmiß. Doch Vedrans Vater hatte Glück im Unglück: „Die brauchten ihn, weil er bei der nationalistischen serbischen Zeitung von Banja Luka unabkömmlich war.“ Vedrans Papa wurde gebraucht – und war deswegen einigermaßen sicher. „Meine Mutter wäre einmal allerdings fast erschossen worden, als zwei Typen in dem Laden, wo sie arbeitete, das Feuer eröffneten.“ Die Mutter entkam, doch von da an war klar, daß auch der jüngere der beiden Söhne die Stadt verlassen sollte.

„Ich bin dann über Belgrad rausgekommen“, erinnert sich Vedran. „Und habe in Berlin begonnen, wieder Musik zu machen, das war beeindruckend – ich konnte drei Jahre lang keine Musik mehr machen, weil meine ganzen Freunde nicht mehr in Banja Luka waren und weil dort sowieso nichts mehr ging.“ Und dann sei er plötzlich in der Musikstadt Berlin angekommen. Rockmusik als Therapie gegen Alpträume.

Seit einigen Tagen sind die Alpträume zurück – nicht wegen Radovan Karadžić, sondern wegen des vom Berliner Innensenator Jörg Schönbohm, dem bayerischen Innenminister Beckstein sowie dem Baden-Württemberger Thomas Schäuble forcierten Beschlusses der Innenministerkonferenz der Länder, der heißt: Abschiebung – das Rotlicht brennt.