: Kohl: Flächentarif nicht mehr zeitgemäß
■ Beim DAG-Kongreß verteidigt Kanzler Helmut Kohl das Gesetz zur Kürzung der Lohnfortzahlung. Kritik der Arbeitgeber hat er als „böswillig“ zurückgewiesen
Magdeburg (taz) – Den Gag kennt der Kanzler schon. „Stoppt die soziale Abrißbirne“ – mit diesem Plakat wird Kohl auf dem 16. Bundeskongreß der DAG-Gewerkschaft empfangen. Fotografen und Kameraleute versuchen, den Kanzler samt Plakat ins Bild zu bekommen. „Damit lebe ich seit 14 Jahren“, kommentiert Kohl das Geschehen, um dann später in seiner Ansprache vor den 190 Gewerkschaftern zu verkünden: „Aber Birne ernährt seinen Mann!“
Der Kanzler ist es gewohnt, vor Leuten zu sprechen, die ihm nicht grün sind. Erstmals seit Inkrafttreten des Gesetzes über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall trat er gestern vor einer Arbeitnehmerorganisation auf. Es war dann auch nicht viel mehr als ein leichter Anstandsapplaus, mit dem der Kanzler begrüßt wurde.
In Sachen Lohnfortzahlung schob der Kanzler alle Schuld von sich. Es hätte „an ihnen als Gewerkschafter und an den Arbeitgebern gelegen, wirksame Mittel gegen den hohen Krankenstand in der deutschen Wirtschaft zu finden“, verteidigte Kohl das Gesetz zur Lohnfortzahlung für Kranke. „Aber da Sie den schon lange versprochenen Konsens nicht gefunden haben, mußten eben wir handeln.“
Es sei aber nie die Absicht seiner Regierung gewesen, in bestehende oder künftige Tarifverträge einzugreifen, so Kohl. „Aber die Politik hat den Tarifpartnern mit dem Gesetz jetzt einen neuen Spielraum gegeben, den sie ausloten und ausnutzen müssen. Das System der Flächentarifverträge hat viel zum sozialen Frieden in Deutschland beigetragen, aber es entspricht nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeit und ist deshalb reformbedürftig.“
Zuvor hatte Kohl sich schon in der Hamburger Morgenpost gegen die Vorwürfe des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall abgegrenzt, er habe die Unternehmen bei der Kürzung der Lohnfortzahlung nicht ausreichend unterstützt. Wer dies behaupte, „der hat entweder kein Gedächtnis oder er ist böswillig“, meinte der Kanzler.
Kohl, der selbst nie Mitglied einer Gewerkschaft war, konnte der als gemäßigt geltenden Gewerkschaft DAG durchaus Gutes abgewinnen. Er sei immer gegen eine Verschmelzung der DAG mit dem DGB gewesen, meinte der Kanzler. Arbeitsminister Norbert Blüm hatte seinen fest eingeplanten Auftritt vor der DAG zuvor kurzfristig abgesagt, begleitete dann aber den Kanzler schweigend bei seiner Kurzvisite. DAG-Chef Roland Issen bekräftigte auf dem Kongreß, seine Gewerkschaft werde in dem Streit um die Lohnfortzahlung kompromißlos bleiben Uwe Ahlert
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