Entweder alles oder nichts

Am Hochhausgewitter Alexanderplatz hält der Berliner Senat fest, obwohl ein Investor nach dem anderen abspringt. Über die städtebaulichen und sozialen Folgen der größenwahnsinnigen Planung herrscht dagegen eitel Schweigen  ■ Von Uwe Rada

Die Zeiten, in denen es in Berlin zwei Zentren gab – die City-West und die östliche Stadtmitte –, sind vorbei. Schenkt man den Visionären der Hauptstadt Glauben, wird es in der vereinigten Stadt das Zentrum gleich in mehrfacher Ausfertigung geben: Am Potsdamer Platz wollen Daimler-Benz und Sony „die alte Mitte neu entstehen“ lassen. Im Bezirk Mitte macht die Friedrichstraße dem Kurfürstendamm als Shopping-Meile Konkurrenz. Am Alexanderplatz schließlich soll, nach den Worten des Berliner Architekten Hans Kollhoff, ein Zentrum entstehen, das gleichsam ein „Symbol für die Zukunft Berlins“ darstellt.

Aber wieviel Zentrum verträgt Berlin? Schon jetzt stehen Hunderttausende Quadratmeter Bürofläche leer, und selbst in der Friedrichstraße herrscht statt Noblesse noch immer tristesse oblige. 700.000 Quadratmeter Nutzfläche wurden hier seit der Wende aus dem Boden gestampft, das sind, im Vergleich, 20 bis 30 Großeinkaufszentren auf der grünen Wiese.

Mit regelrechten Prognosen der Superlative wartet freilich der städtebaulich noch arg lädierte Alexanderplatz auf. Über eine Million Quadratmeter Nutzfläche für Büros und Geschäfte sollen – verteilt auf zwölf 150 Meter hohe Manhattan-Türme und verschiedene Blockrandbebauungen – in den nächsten zwanzig Jahren zwischen Rotem Rathaus und einstigem Scheunenviertel entstehen. Trotz Immobilienflaute, Finanzkrise und Schmuddelimage – noch immer denkt man in Berlin eher daran zu klotzen statt zu kleckern. Der Regierungsumzug, so predigen die Hauptstadtmanager, wird's schon richten.

Drei Jahre ist es nun her, seit der selbsternannte preußische Rationalist Hans Kollhoff, der mit seinem Faible für steinerne Fassaden ein Stichwortgeber des sogenannten „Berliner Architekturstreits“ war, den städtebaulichen Wettbewerb für den Alexanderplatz gewonnen hat. Was damals als der große Wurf galt, weil man 1993 noch von einer Dienstleistungsmetropole träumte, die im gleichen Atemzug mit Paris oder London genannt werden würde, stellt sich heute ganz anders dar. Angesichts sinkender Bevölkerungszahlen und wachsender Randwanderung wäre die Stadt besser beraten, weniger hoch hinaus zu wollen. Selbst Wirtschaftsexperten warnen inzwischen davor, daß Berlin im internationalen Wettbewerb der Städte sogar gegenüber der Konkurrenz aus Prag oder Budapest den kürzeren ziehen könnte.

Für Peter Brandt gibt es dennoch keinen Grund, am Standort Alexanderplatz zu zweifeln. Der Geschäftsführer der „Intertec- Stadtentwicklung“, die für die Deutsche Interhotel drei Blöcke am Alexanderplatz plant, hat für die Zukunft des zugigen Platztorsos sogar eine Corporate identity parat: Der Alexanderplatz, meint Brandt, „wird einmal die Markthalle der neuen Generationen“.

Was Brandt so zuversichtlich macht, hat einen einfachen Grund. Zum Alexanderplatz muß man die Käuferscharen im Gegensatz zu anderen „Zentren“ erst gar nicht locken. Sie sind bereits da. Die Kaufhof- Filiale beispielsweise, das ehemalige Zentrum Warenhaus, verzeichnet bereits die höchsten Umsatzzahlen des Unternehmens der Republik. Kein Wunder, daß da kräftig investiert werden könnte. Eine Baugenehmigung für eine Erweiterung des Kaufhauses liegt darum bereits auf dem Tisch. Und auch die Deutsche Interhotel will den Alexanderplatz vor allem als Einzelhandelsstandort nutzen.

Bei soviel Optimismus verblüfft es nicht, daß es Projektentwickler Brandt nach Taten drängt. Immerhin verfügt die Deutsche Interhotel mit dem Gelände des heutigen Forum-Hotels über die Filetstücke am Alexanderplatz. Entsprechend konkret sind die Planungen, die dem Senat bereits vorliegen. Auf den drei Blöcken sollen die Architekten Jürgen Sawade (pikanterweise Juryvorsitzender beim Wettbewerb 1993), Hans Kollhoff und Christoph Ingenhoven drei 150 Meter hohe Türme entlang der Straße „Alexanderplatz“ bauen. Garniert werden die Hochhäuser mit einer Blockrandbebauung, die sich in ihrer Höhe an den einzigen Gebäuden orientiert, die noch vom 1929er Wettbewerb zeugen: das Haus Berolina und das Alexander- Haus von Peter Behrens.

Doch der Optimismus der Deutschen Interhotel, die seit der Milliardenpleite der Mutterfirma Trigon weitgehend unter Kuratel der Deutschen Bank steht, wird nicht von allen Investoren am Alexanderplatz geteilt. Der Berliner Verlag etwa, eine Tochter des Hamburger Medienkonzerns Gruner + Jahr, saniert derzeit sein Verlagsgebäude. Von einem Hochhaus ist keine Rede mehr. Die Treuhand- Liegenschafts-Gesellschaft (TLG) sucht noch immer nach Investoren für drei Hochhausblöcke, die einmal gegenüber dem Forum-Hotel auf dem Gelände des ehemaligen „Hauses der Elektroindustrie“ hochgezogen werden sollen. Andere Investoren wie die Terreno des Heidelberger Baulöwen Roland Ernst halten offiziell zwar noch an der Kollhoff-Planung fest. Doch die Fakten sprechen für sich: Terreno hat das 1967 bis 1971 erbaute ehemalige „Haus des Reisens“ bereits vermietet. Entsprechend zurückhaltend zeigt sich der offizielle Investorenvertreter Bodo Fuhrmann. Zwar sei es nach wie vor der erklärte Wille der Investoren zu bauen. Alles weitere sei allerdings abhängig vom Bebauungsplanverfahren, so Fuhrmann zögerlich.

Auf einen „Kater vor dem Rausch“ hofft deshalb der Berliner Stadtplaner Harald Bodenschatz, der den Kollhoff-Plan wegen seiner Monströsität einmal als „Okkupation“ bezeichnete. Und der Architektursoziologe Werner Sewing wird nicht müde zu fragen, ob Berlin angesichts der geplatzten Metropolenträume weiterhin ein Manhattan simulieren müsse. Das Hauptargument der Kollhoff-Kritiker aber geht noch in eine andere Richtung: Die Planung wirke sich vor allem wegen der massiven Nutzung auf die Bodenpreise und damit negativ auf die umliegenden Altbauquartiere aus.

Daß diese Bedenken ernst zu nehmen sind, hat inzwischen selbst die vom Senat beauftragte „Beratungsgesellschaft für Stadterneuerung und Modernisierung“ (BSM) festgestellt. In einer Sozialstudie über die künftige Entwicklung des Alexanderplatzes werden nicht nur die geplanten Gebäudeabrisse kritisiert, von denen 245 Bewohner betroffen sein würden. Als „mittelbare Auswirkungen“ werden zudem „eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch eine Aufwertung des Gebiets, die Verdrängung sozial schwacher Mieter sowie eine verstärkte Segregation“ prognostiziert.

Für den Senat, allen voran Bausenator Jürgen Klemann, spielt das freilich keine Rolle. In seinem Haus steckt man eher den Kopf in den märkischen Sand, als daß man etwas von „Katerstimmung“ hören möchte. Bis Anfang nächsten Jahres will der bislang glücklose CDU-Mann das kaum mehr realistische Hochhausmodell sogar planungsrechtlich zementieren; ein im Berliner Baugeschehen durchaus kein üblicher Vorgang.

Entgegen dem ursprünglich vorgesehenen zweistufigen Bebauungsplanungsverfahren (B-Plan), bei dem die Dichte der Bebauung erst im konkreten Bebauungsfall festgelegt werden sollte – wie etwa am Potsdamer Platz –, soll das Bauvolumen bereits im Vorfeld vorgeschrieben werden. Noch in diesem Herbst sollen die ersten Ergebnisse dieses „qualifizierten“ Verfahrens vorliegen, und schon im Frühjahr 1997 könnte der B- Plan-Entwurf in die vorgezogene Bürgerbeteiligung gehen. Als Grund für das hektische Treiben nennt der zuständige Bearbeiter des Bebauungsplans den Wunsch der Investoren am unmittelbaren Alexanderplatz nach Planungssicherheit. Interhotel-Projektentwickler Brandt kann das bestätigen. „Natürlich haben wir ein großes Interesse an der Fertigstellung des Bebauungsplans“, sagt Brandt, der sich über das Umdenken in der Bauverwaltung sichtlich freut.

Doch was den Investoren der Filetgrundstücke recht ist, muß für die anderen Bauherren noch lange nicht billig sein. Mehr noch: Die Eile, mit der den Wolkenkuckucksheimen zur Gesetzeskraft verholfen wird, könnte so manchem Investor am Ende auf die Füße fallen. Falls sich nämlich außer der Interhotel und dem Kaufhof doch noch ein Investor entscheiden sollte, den ersten Spatenstich zu setzen, wäre der planerische Spielraum denkbar gering. Noch weniger als bisher würden dann Angebot und Nachfrage das jeweilige Bauvolumen bestimmen, sondern einzig und allein die einmal – prophylaktisch – festgelegte Nutzungsdichte.

Die Berliner Opposition hat dieser Politik der zweiten Schritte vor dem ersten den Kampf angesagt. Bündnisgrüne und PDS wissen ganz genau, daß bei der Entscheidung für Kollhoff von einem „Tor zum Osten“, wie es der Architekturkritiker Wolfgang Kil bereits 1991 gefordert hatte, keine Rede mehr sein kann. Statt dessen dürfte der Alex, im Bebauungsfall wohlgemerkt, wie eine uneinnehmbare Festung jenes Leitziel verkünden, das der Berliner Stadtbaudirektor der 20er Jahre, Martin Wagner, im Zusammenhang mit einem der vergangenen Alexanderplatzwettbewerbe formuliert hatte. „Die Wohnviertel der Armen und Ärmsten mit ihrer dezimierten Kaufkraft hemmen die Entwicklung der City.“

Denkbar ist aber auch ein anderes Szenario: Weil nur noch riesig gebaut werden darf, rollen die Bagger gar nicht erst an. Dann freilich wäre der Alexanderplatz weiterhin das städtebauliche Fragezeichen, als das es die DDR entlassen hat. Beide Varianten wären im übrigen ganz typisch für die Sicht der Berliner auf die Zukunft ihrer Stadt. Entweder es gibt alles oder nichts, entweder geht es hoch hinaus oder man landet auf dem Pflaster. Dazwischen gibt es nichts. Eine ausgewogene Mitte ist in der Vorstellungswelt der Berlin-Visionäre nicht vorhanden. In der Hauptstadt soll es, wie gesagt, nur Zentren geben.