In Frankreichs Hauptstadt sind gestern die Prêt-à-porter-Schauen für den Sommer 1997 zu Ende gegangen. Die Techniken der Haute Couture sollen die Pariser Mode wappnen – gegen die schlichten und sachlichen Kleider aus Italien und Amerika. Den Laufsteg beobachtete Anja Seeliger

Luxus! Verschwendung! Muße!

Die Haute Couture ist tot! Es lebe die Haute Couture! Was sich vor einem halben Jahr noch wie ein zart geflüstertes Plädoyer anhörte, schwoll bei den gestern zu Ende gegangenen Pariser Prêt-à- porter-Schauen für die Sommermode 1997 zu einem Schlachtruf an: Nieder mit der Schlichtheit, nieder mit der Sachlichkeit, nieder mit einer Mode, die sich vor allem dadurch auszeichnet, daß man ungestört in ihr arbeiten kann! Es lebe die Raffinesse, die Verschwendung, der Luxus, die Muße!

Die Italiener und Amerikaner können aus einem Viereck ein ganz ordentliches Trapezkleid machen, aber wissen sie, wie man aus einem Viereck eine große Robe schafft? Natürlich wissen sie nicht. Joséphus Melchior, Chefdesigner von Balenciaga, zeigte es ihnen: An einem schmalen Rock, der bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, befestigte er an der Rückseite direkt unter dem Bund ein mindestens zwei Meter langes Viereck. Dieses wurde einmal gefaltet und dann von oben in den Rock gesteckt. Der Effekt war, daß der Rock plötzlich zwei Schleppen hatte – eine kurze, die außen bis zum Saum über dem Rock hing und eine lange, die unter dem Rock hervorkam und ein gutes Stück über den Boden schleifte. Die Idee war so einfach, daß sie dem Rock eine geradezu hochnäsige Eleganz verlieh.

Auf die eine oder andere Art beschäftigte sich jeder Designer mit der Haute Couture. Das war jedoch nicht nur dem Konkurrenzkampf geschuldet. Paris hatte ein halbes Jahr lang die Luft angehalten ob der nervenzerreißenden Frage, wer Dior übernehmen wird. Jean-Paul Gaultier hätte es liebend gern getan – abgelehnt. Gaultier machte seiner Enttäuschung Luft und zeigte zum Abschluß seiner Schau ein Brautkleid, daß von vorn wie das schlichteste aller Couture- Kleider aussah. Hinten war es jedoch offen, nur mit einer kleinen Schleife im Nacken zusammengehalten. Darunter trug die verschmähte Braut nichts außer einem G-String – verziert mit dem obligatorischen Brautbukett. Auch Vivienne Westwood hätte gern Dior übernommen – abgelehnt. Zum Ausgleich zeigte sie dramatisch drapierte Abendkleider aus goldenem Taft. Sollte irgend jemand geglaubt haben, sie könnte kein Couture-Haus leiten – pah!

Doch die schönste Hommage an die Haute Couture zeigte ausgerechnet – Yohji Yamamoto. Mäntel waren innen auf Hüfthöhe mit Einlagen versehen. Sie waren lang, bis zur Taille doppelreihig geknöpft, mit Hüftknick und schräg aufgesetzten Taschenklappen. Im Showroom von Yamamoto hing so ein Mantel von der Decke herab. Er sah aus wie ein lebendiges Wesen: Die Arme bildeten einen kleinen Bogen nach innen, als wollten sie einen gleich umarmen.

Nach den Mänteln kam Stella Tennant auf den Laufsteg. In einem Chanel-Kostüm! (Tennant ist das Hauptmodel für Chanel). Der Stoff war aus dicken Seidenfäden gewebt, so daß er von weitem wie Tweed aussah. Ein Samtbesatz markierte die Borte. Ärmel, Kragen und Kanten waren ungesäumt und schon leicht ausgefranst. Dann gab es Kleider, die aus unzähligen Blüten bestanden, jede dieser mit bunten kleinen Perlen bestickt, die Sterne oder Blumen darstellten. Auch hier war jede Perle mit der Hand genäht. Der Höhepunkt war eine Abendrobe, die ganz zum Schluß gezeigt wurde. Ein goldgelbes Satinkleid – drapiert am Oberteil, der Rock in wunderliche Querfalten gelegt, aus denen zwei Ärmel – einer kurz, der andere etwas länger – ragten. Wenn man die Arme verkehrt herum in die Ärmel hineinsteckte, saßen sie eng an wie ein Handschuh. Nur – die Arme steckten dann in dem Kleid!

Daß Yamamoto bei der Suche nach einem Couturier für Dior nicht einmal gefragt worden ist, zeugt von einer Stumpfheit, die für den glücklichen Sieger nichts Gutes verheißt.

Der Sieger im Kampf um Dior heißt John Galliano. Galliano bezog für seine letzte Givenchy-Kollektion die fürchterlichsten Prügel: „Es war einer dieser unsäglichen Momente in der Mode, wo sich die Professionellen am liebsten unter dem Stuhl verkriechen würden, in der Hoffnung, daß diese peinlichen Kleider einfach verschwinden“, schrieb Suzy Menkes in der International Herald Tribune. „Flach und langweilig“, urteilte Women's Wear Daily. Auch für die Prêt-à- porter-Linie entwarf er einige dieser Empirekleider. Und seine waren bei weitem die lustigsten: Ein tiefer runder Ausschnitt, winzige Puffärmel und ein Schnitt, der den zart geblümten Stoff von der Taille, die unter dem Busen lag, nicht weit herabfallen ließ, sondern eng an den Körper schmiegte. Man könnte es verruchte Unschuld nennen. Nachfolger von Galliano bei Givenchy wird der Brite Alexander Mcqueen, 27.

Neben der Givenchy-Kollektion zeigte Galliano auch noch eine eigene. Zu dieser hatte er eine wilde Geschichte parat: In einem kleinen Dorf sitzt ein kleines Mädchen mit einem großen Traum. Eines Tages läuft sie mit einer Gruppe ukrainischer Zigeuner fort, die mit einem Zirkus umherziehen. Nach Jahren des Wanderns erfüllt sich ihr großer Traum: Sie wird die Königin des Trapezes.

Ganz so war es nicht. Es gab Korsagen, die mit silbernen Sternen und Monden bestickt waren, mit Pailletten und Perlen, mit goldenen Borten und Bändern. Nichts davon hat eine Maschine gemacht. Ein hauchdünnes Kleid aus blauem und schwarzem Chiffon war einer Haute-Couture-Robe von Dior aus den fünfziger Jahren nachempfunden: Der Rock fiel ab der Hüfte in schrägen Bahnen weit auseinander und hing einen halben Meter auf den Boden. Nicht angesetzt, sondern irgendwie aus den Stoffbahnen hervor brachen fächerförmige Volants, die versetzt über den ganzen Rock verstreut waren. Das ganze Kleid überrieselt mit winzigen glitzernden Steinen. Ein anderes Kleid war aus hauchdünnem rosa Chiffon, vorn geschlitzt bis zum Schritt. Das Oberteil mit einem prächtigen Muster aus weißen, grünen, blauen und rosa Pailletten bestickt, die wie zufällig die delikaten Stellen bedeckten. Hunderte von Pailletten – und jede einzelne mit der Hand aufgenäht. Ein Arm wurde von dem Chiffon umflossen, den anderen bedeckten weiße Schwanenfedern. Das waren keine ukrainischen Zigeuner, das waren auch keine Zirkusromantik aus Hollywood, das war – Byzanz. Galliano wird Dior entweder in ungeahnte Höhen führen oder komplett ruinieren.

Die Geschichte könnte hier zu Ende sein – wenn es nicht einen Mann gegeben hätte, den die ganze Aufregung um Dior, Haute Couture, Absatzsorgen und so weiter vollkommen kalt gelassen hätte: Karl Lagerfeld. Seine Schau für Chanel begann mit einem echten Knüller: Eine Ansage kam durch die Lautsprecher, die die Passagiere eines Flugzeugs zu irgend etwas aufforderte. Dann tat sich am Anfang des Laufstegs eine Tür auf und heraus kamen die Models. Gerollt, nicht geschritten. Es war unbeschreiblich komisch. Lagerfeld hatte ein Laufband in den Laufsteg einlegen lassen – und da standen die Schönen dann und schwebten lässig an den Zuschauern vorbei. Vorneweg Claudia Schiffer, die hier ihren einzigen Auftritt hatte, und Stella Tennant. Es kamen die traditionellen Chanel-Kostüme, diesmal in hellblau, gelb und rosa und ohne goldene Knöpfe, dann einteilige Hosenanzüge mit kurzen Beinen in rot, lila, petrol, gelb, dazu knapp knielange Mäntel in den gleichen Farben. Und schließlich kleine geblümte Kleider, dazu knielange irisierende Mäntel in der Farbe des Haupttones des Kleides, deren Innenfutter mit demselben Blümchenstoff bedruckt war wie die Kleider. Es gab viel zu lachen bei dieser Schau, und dadurch wurde einem bewußt, wie sehr sich die anderen angestrengt hatten.

Zum Schluß spuckte das Laufband Mädchen in Seidenkleidern aus wie Tennisbälle. Diesmal blieben sie nicht stehen, sondern marschierten nach vorn, und wer marschierte zum Schluß? Karl Lagerfeld. In einem schwarzen Anzug von Yamamoto.