Verführung Hüftsteifer ohne Mittmachzwang

■ Bei Le Bal Moderne lädt Kampnagel das Publikum zu einer Ballnacht samt Tanzstunde

Aufgeregt ist hier niemand. Reges Treiben bei gelassener Atmosphäre bevölkert die Säle, während der Regen aufs Wellblechdach plätschert. Französische Choreografen weisen ihre deutschen Kollegen in die Tänze des modernen Balles ein, die sie am Abend an das Publikum weitergeben werden. A droite! A gauche! Attrape! Die Lüster brennen schon.

„Mach Dir keine Sorgen“, beruhigt ein Franzose einen deutschen Tänzer, „wenn die Leute nicht sofort die richtige Position einnehmen oder mit dem Rücken zu Dir stehen. Sobald die Musik losgeht, klappt das schon.“

Die Verwandlung des Alltags ist die Aufgabe des Tanzes, und diese brauchen die Städter genauso wie Dörfler, von denen der Tanz einst herkam. Le Bal Moderne zeigt eine neue Form von Tanztheater: alle „Zuschauer“ spielen mit. Aber nicht gezwungenermaßen und qualvoll, wie im Partizipationstheater der 70er Jahre. Hier ist das Gefühl reinen Vergnügens der höhere Sinn. Wie auf einem klassischen Ball sollen alle das Tanzbein schwingen.

Ein steifer und schicker bürgerlicher Ball ginge aber mit der Fabrikhallenatmosphäre in Kampnagel überkreuz. Hier wird es volksnäher zugehen – in Paris verzeichnete man pro Abend 500 Mittänzer aller Altersklassen und sozialer Schichten. Michel Reilhac, der Erfinder des Bal Moderne, Tänzer und Direktor der Pariser Videothek, verbindet Tanz mit Politik. Tanz als wahrhaftig demokratisierte Kunst soll das richtige Instrument für eine neuzuschaffende Staatsform sein, großzügig, mitfühlend und verständlich. Austausch und Verständnis jenseits der Sprache sind gefordert.

Reilhac versteht Le Bal Moderne als Beitrag im Kampf gegen die Indifferenz und die Isolation. Joseph Beuys und dessen Konzept der „sozialen Skulptur“ beeindruckten ihn stark. Sinnlichkeit und Genuß als politisches Statement.

Die Tänze werden extra für diesen Zweck kreiert, die Choreografen jedes Jahr aus Hunderten von Einsendungen ausgewählt. Auf Kampnagel wird „Floridita“ zu Musik der kapverdischen Inseln, „Droopy Dance“, der Wackeldackel-Tanz als Anspielung auf das Paar als solches, „La Ziva“, ein ruhiger, arabischer Tanz und „Twist Poker“ mit Soulmusik der 70er gegeben.

Der Zuschauer mit seinem eher distanzierten Verhältnis zum Tanz, der steif und ungelenkig lieber auf die Bühne guckt, als selber auf den Brettern zu stehen, soll so Zugang zum zeitgenössischen Tanz erhalten. Auf Elite, Avantgarde oder Tanzausbildung wird kein Wert gelegt. Kerstin Kellermann 17. bis 20. und 24. bis 26. Oktober, 19 Uhr, Kampnagel, k1