■ Vorschlag
: Im Identitätendschungel: Texte zu lesbischen Alltagsstrategien

Für Camille Paglia ist die Sache sonnenklar: „Das Lesbentum, das ein verlorenes Paradies seliger Einheit mit der Mutter sucht, ist spießig, regressiv und leider auch nur zu oft intellektuell kraftlos, mit einer Tendenz zum Leerlauf.“ 1991 fand die italoamerikanische Essayistin, deren Tendenz zur Tirade bekannt sein dürfte, zu diesem vernichtenden Urteil. Wer sich ihm nicht anschließen möchte, wäre allerdings schlecht beraten, es einfach in sein Gegenteil zu verkehren. Denn die (Selbst-)Verklärung der Lesbe zur Vorhut feministischer Aktion und zur wahrhaft befreiten Frau will genausowenig funktionieren, und auch das märchenhafte Muster eines Lebensweges, der allen Widerständen zum Trotz über die Selbstfindung in garantierte Erfüllung mündet, steht zur Debatte. Mehr noch: Gibt es überhaupt Kriterien, die allen Lesben gemein sind?

Identitäten fallen nicht vom Himmel, sie werden gemacht, durch Grenzziehungen. Genau an diesem Punkt setzt „Grenzen lesbischer Identitäten“ an, eine Aufsatzsammlung, die die Berliner Soziologin Sabine Hark herausgegeben hat und aus der sie heute abend in der Kulturbrauerei vortragen wird. Das Buch versammelt sechs Texte, drei von US-amerikanischen, die übrigen von deutschen Wissenschaftlerinnen verfaßt. Im Berliner Quer-Verlag erschienen, versteht es sich als Auftakt zu einer Reihe „querdenken“, die theoretischen Aspekten schwuler und lesbischer Lebensformen nachgeht.

Gleich der erste Aufsatz, „Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität“ von Judith Butler, räumt den Einwand zur Seite, daß das Beharren auf einer verbindlichen Identität nötig sei. Butler zeigt, wie gerade im scheinbaren Nachahmen heterosexueller Muster eine subversive Kraft wohnt. Indem etwa zwei Frauen als butch und femme eine traditionelle Mann-Frau-Beziehung inszenieren, stellen sie die Konstruiertheit des Hetero-Modells zur Schau.

Nicht alle Aufsätze liefern so viele Denkanstöße wie Butlers Text; die Mischung aus feministischer Theorie, Dekonstruktion und allerlei Foucault gerät mitunter zum modischen Jargon. Dennoch zeigen „Grenzen lesbischer Identität“, daß Pauschalurteile à la Paglia reichlich staubig dastehen. Cristina Nord

Heute, 20 Uhr, Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, Prenzlauer Berg

„Grenzen lesbischer Identität“, hrsg. v. Sabine Hark, Quer-Verlag, Berlin, 200 S., 29,80 DM