Vom Sessel aus hinaus in die weite Welt

■ Tapfer um Ironie bemüht: Johanna Schall inszenierte am Deutschen Theater Klaus Chattens „Sugar Dollies“, eine Abrechnung mit dem Medium Fernsehen

Wenn es, wie ein Bielefelder Soziologenguru in seinem neuen Buch behauptet, wirklich so ist, daß der Fernsehkonsument sich selbst nur noch durch die Folie eines bereits vom Fernsehen vorgeprägten Konsumentenbildes wahrnimmt – wo werden wir denn dann unsere viereckigen Flimmerhirne überhaupt wieder los? Die Zeitung? Alle Leser längst vom von der Zeitung vorgeprägten Leserbild verseucht. Das Kino? Wahrnehmungsraster wahrscheinlich auch vom Fernsehen vermüllt. Theater? Da wäre was zu holen. Gehören doch Besucher dieser sich zumindest in der Mehrzahl immer noch als Aufklärungsanstalten begreifenden Häuser zu einer Spezies, die Eindrücke vom vorherigen Fernsehabend immer noch mit unschuldigen Einleitungssätzen beginnt: „Als ich gestern ganz zufällig in Emergency Room / Verbotene Liebe / Bärbel Schäfer...“

Eigentlich merkwürdig, daß sich das Theater beim ewigen Ruf nach Gegenwartsstücken ausgerechnet den Erzfeind, die Welt der Schmidts, de Mols und Wickerts, noch nicht so recht zum Schlachtfeld auserkoren hat. Jetzt ruft Klaus Chatten zur Attacke. Als Autor einer 13teiligen Fernsehserie wird er wissen, wovon er redet. Vor drei Jahren schwadronierte Herr Fängewisch, Held seines ersten Bühnenstückes „Unser Dorf soll schöner werden“, noch vom Sessel aus über die Glotze und die Welt.

Im neuen Opus drängt es die „Sugar Dollies“ jetzt unaufhaltsam ins Herz des Mediums selbst. Bevor es zur Sache geht, und damit zur Kandidatinnenkür für eine Unterhaltungsshow mit Kennenlerneffekt, muß man einen merkwürdigen Monolog über sich ergehen lassen. „Ich will Ihnen nichts vormachen“, schreit Rosy, arbeitslose Schauspielerin im schwarzen Existentialistenkleid. Rosy ist Kulturterroristin, also eine, die Fernsehen haßt.

Aufgewachsen im „Wirtschaftswunder-KZ“ mußte sie bis zum 16. Lebensjahr „Markklößchensuppe und Leberwurst von Hakenkreuztischdecken essen“. Der Anblick deutscher Zahnärzte, Intendanten, Dramaturgen und Kritiker verursacht ihr Übelkeit, überhaupt findet sie's gemein, wenn ein Theaterchef ihren S-Fehler moniert, leide doch das ganze Land unter einem angeborenen SS-Fehler. Har, har.

Das Vorspiel wirkt wie die witzverkrampften Aufwärmphasen von Jay Leno oder Harald Schmidt, allerdings moralischer und damit peinlicher, auch wenn sich Regisseurin Johanna Schall tapfer um Ironie bemüht. Auftritt Tabea Mrugalla und Mutter. Gudrun Ritter als mediengeiles Mamamonster ist hundsgemein, böse und mithin eine wahre Freude. Bewehrt mit Batman-T-Shirt und durchsichtigem Regenmantel will sie ihren rheinischen Kloß von Tochter um jeden Preis ins Fernsehen hieven. Mit Mrugalla & Co. entsteht endlich ein fernes Echo von Elfriede Jelinek, also jenes Trash-Gefühl, das einem Konsumpfuhl auf der Bühne erst die richtige Schubkraft gibt. „Im Kostüm mit dicke Titti komm' ich hier nach Gotham City“, schmettert das Duo aus atombusigem Alptraum und Tochtertrampel in einer Mischung aus Kölsch und Berlinerisch. Das ist nicht lustig, sondern sehr lustig.

Als weiblicher Obelix im rosa Chanel-Imitat wird Muttern beim Kandidatencasting mit der Agentin Pfauweber erst recht zu Höchstleistungen auffahren. Daß sich die hochgestylte Fernsehtusse mit Handy und Champagnerglas exakt so gebärdet, wie man sich eine Fernsehtusse im Theater vorstellt, liegt nicht an Barbara Schnitzler. Die spielt die Schnepfe so überkandidelt, wie sich's gehört, aber längst nicht so hysterisch, wie sie könnte. Als beiläufigen Höhepunkt inszeniert Schall die Szene, in der Mama Mrugalla die Schreckschraube nach verpatztem Tochtercasting ganz sang- und klanglos („Ich mach' dich kaputt“) aus dem Fenster schmeißt. Als wär' sie ein kleiner Hinkelstein.

Trotz schöner Seitenhiebe auf Ost- und Westempfindlichkeiten und obwohl Autor Chatten neben Michael Holm und „Mendocino“ auch begeisternde Schimpfwörter wie „niederbayerische Tittiklette“ im Text unterbringt, bleibt sein Stück nur ein kleines Fernsehspiel. Zu brav und vermeintlich aufklärerisch angesichts des Mediums, das hier ins Visier genommen wird. Theater, das Fernsehen verhaut, muß böser, widerlicher, sadistisch, schneller und bitte nicht moralisch sein. Hinter der Bühne, hinter der Tür des Castingraums wartet immer noch ein faszinierend glitzerndes Ungeheuer: „Sugar Dollies“ – die Show, bei der man auch als Theaterzuschauer nur bis ins Vorzimmer gelangt. Katja Nicodemus

Weitere Vorstellungen am 20. und 25. 10, 19.30 Uhr, Deutsches Theater (Kammerspiele), Schumannstraße 13a