Der Strukturwandel ist längst nicht geschafft

Serie: Standort Berlin auf dem Prüfstand. Bis zum Jahr 2010 sinkt die Zahl der industriellen Arbeitsplätze kontinuierlich, schätzen Wirtschaftsforscher des DIW. Neue Dienstleistungsjobs können die Verluste nicht ausgleichen  ■ Von Hannes Koch

Der Schock traf andere Regionen der Bundesrepublik viel früher als Berlin. Hunderttausende von Bergleuten und Stahlarbeitern wurden in den siebziger und achtziger Jahren überflüssig. Im Ruhrgebiet schlossen die meisten Kohlezechen und Hochöfen. Mittlerweile, so heißt es, sei der Strukturwandel geglückt. Wo im Gelsenkirchener Gußstahlwerk die Proletarier früher glühenden Stahl schmiedeten, mäandrieren heute künstliche Bächlein um eine futuristische Glaspyramide. Drinnen schauen einzelne WissenschaftlerInnen auf ihre Computermonitore und machen sich die Hände nur dann noch schmutzig, wenn sie verstaubte Bücher aus dem Regal holen.

Seit 1990 hat dieser Prozeß auch in West- und Ostberlin mit ganzer Macht eingesetzt. Was in Dortmund, Hamburg und Hannover aber 20 Jahre dauerte, wird hierzulande in weniger als der halben Zeit erledigt. Mehr als 200.000 IndustriearbeiterInnen wurden zwischen Spandau und Hellersdorf in den vergangenen sechs Jahren aussortiert: SchweißerInnen, Elektrotechniker, Maschinenbauer. Die Produkte, die sie herstellten, braucht man nicht mehr. Oder sie werden jetzt billiger gebaut: in Brandenburg, Westdeutschland oder Südkorea. Statt 380.000 IndustriearbeiterInnen 1990 arbeiten heute noch rund 180.000 Menschen in Berliner Fabrikhallen und größeren Gewerbebetrieben.

Doch „der Erosionsprozeß des verarbeitenden Gewerbes wird sich fortsetzen“, schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Zahl der Jobs könnte bis 2010 noch auf 145.000 sinken. Damit hätte die Industrie dann im Vergleich zu 1990 etwa 60 Prozent ihrer Arbeitsplätze eingebüßt.

Aber vielleicht kommt es auch härter. Die WirtschaftsforscherInnen haben sich schon einmal grandios verschätzt, als sie Berlins Zukunftsaussichten beurteilten. Vor vier Jahren waren sie viel zu optimistisch und setzen die Zahl der Arbeitsplätze weit über dem an, was heute tatsächlich noch vorhanden ist. Möglicherweise sinkt die Industriebeschäftigung im nächsten Jahrhundert auch unter 100.000 – genau weiß das heute niemand.

Besonders gebeutelt waren seit der Wende zum Beispiel die Schwerindustrie, der Maschinenbau und die Elektroherstellung. Im Osten stehen Namen wie Elektroapparatewerk, Kabelwerk Oberspree, Werk für Fernsehelektronik und Robotron für Betriebe, die nicht mehr oder nur noch mit wenigen Beschäftigten arbeiten. Die Herstellung in diesen Kombinaten war für kapitalistische Verhältnisse zu teuer oder schlicht überflüssig.

Auf westlicher Seite des ehemaligen Mauerstreifens bauten die großen Unternehmen ebenfalls Jobs ab, und manche gingen in Konkurs. Einige wie Detewe, Herlitz und Aqua Butzke wanderten ins brandenburgische Umland aus, so daß die Beschäftigung wenigstens in der Region erhalten bleibt.

Der Jobverlust im Westen ist eine Reaktion auf den Abbau der Berlinförderung, die eine im Verhältnis zu den Marktpreisen eigentlich zu teure Produktion künstlich aufrechterhielt. Zudem gibt es im Umland oft bessere Verkehrsanbindungen. Die Preise für die dortigen Grundstücke sind niedriger und die Subventionen für die Ansiedlung höher. Hinzu kommt dann noch die schlechte Konjunktur als Folge der zunehmenden weltweiten Konkurrenz.

Das Zusammenwirken der negativen Faktoren führt dazu, daß die Deindustrialisierung nicht nur schneller stattfindet als in anderen Großstädten, sondern auch gravierendere Folgen mit sich bringt. Schon heute ist die Zahl der Industriearbeitsplätze pro tausend EinwohnerInnen in Berlin niedriger als etwa in Köln oder Hamburg.

Aber nicht in allen Wirtschaftssektoren war die Entwicklung so katastrophal. Banken, Versicherungen und die sogenannten produktionsnahen Dienstleistungen legten bei Wirtschaftsleistung und Beschäftigung zu. Namentlich Werbung, Softwareentwicklung, Unternehmensberatung und Messewesen bescheinigen die WirtschaftsforscherInnen des DIW für die kommenden 15 Jahre gute Wachstumschancen. Richtig bleibt aber auch: Die Zahl der Arbeitsplätze, die seit 1990 vernichtet wurden, können die Boombranchen nicht ausgleichen. Auch die neuen hoffnungsvollen Industrien wie Biotechnologie, Verkehr und Umwelttechnik bieten weniger Menschen ein Auskommen als in den alten Unternehmen arbeiteten.

„Die Arbeitslosigkeit bleibt über das Jahr 2000 hinaus hoch“, schätzt das DIW. Die Zahl der Erwerbspersonen soll von 1,8 Millionen (1990) auf knapp 1,5 Millionen (2010) sinken.

Trotzdem, so sagen die Hauptstadtoptimisten, sei Licht am Ende des Tunnels. Sie hoffen auf den Umzug der Bundesregierung, der auch Verbände und Lobbyorganisationen an die Spree locke. Die heute noch leeren Glaspaläste in Mitte und Moabit würden sich dann mit keimfreien Labors und schicken Büros mit Angestellten in Nadelstreifen füllen. Sollten sich die Erwartungen erfüllen, wird es dann in 20 Jahren heißen: „Berlin hat es geschafft.“

Im Fernsehen wird man gepflegte 35jährige Menschen präsentieren, die die Welt mit der Entwicklung irgendeiner neuen Emulsion beglückt haben. Auf ein paar hunderttausend Arbeitslose wird es dabei kaum noch ankommen. Und die Malocher, die dieser Tage von den Konzernen AEG, Siemens, Daimler und Konsorten wegrationalisiert werden, sind dann in Rente oder leben nicht mehr. Das nennt man dann Strukturwandel.