: Augen sind mehr als Organe
■ Ganzheitliche Sehtherapien legen weniger Wert auf die Dioptrienzahl als vielmehr auf den "Visus", die Sehfähigkeit, die jeder für sich individuell zu entdecken hat
Bei einem kaputten Rücken gilt ein Korsett als das letzte Mittel. Erst wenn alle anderen Heilmethoden nichts gefruchtet haben, wird zur heilungsersetzenden Stütze gegriffen. Bei vielen Krankheiten sind Krücken lediglich Mittel zum Zweck, nur bei den Augen nicht. Die Schulmedizin bekämpft bei Augenleiden ausschließlich die Symptome. Erst stellen die Ärzte die Kurz- oder Weitsichtigkeit des Patienten fest, dann verpassen die Optiker eine Brille. An Heilung wird nicht gedacht. Sitzt die Brille auf der Nase, wird die Krankenakte geschlossen.
Für die Diplom-Psychologin und Sehtherapeutin Christiane Ganser ist das ein Unding: „Das Auge bestreitet nur zehn Prozent des Sehvorgangs, die restlichen neunzig Prozent leistet das Gehirn.“ Bei solchen Relationen ist es ihr unverständlich, warum die Schulmedizin das Auge lediglich als Organ betrachtet. Für viele Augenärzte bestehe das Auge aus einer Linse und einem Muskel – mehr nicht. Gebe es Fehlfunktionen würden sie meist genetisch begründet. Dafür hat Christiane Ganser nur Spott übrig: „Das Erbgut wird immer bemüht, wenn die Medizin nicht weiterweiß.“
Ihre Herangehensweise als Sehtherapeutin ist grundsätzlich anders. Christiane Ganser bietet ganzheitliche Therapien zur Verbesserung der Sehfähigkeit an. Sie kümmert sich um die neunzig Prozent, die die Schulmedizin vernachlässigt. „Der Prozeß des Sehens ist beeinflußbar, und niemand ist seinen Augen schicksalhaft ausgeliefert“, beschreibt sie die Grundlage ihrer Arbeit.
Die Dioptrienzahl, die der Bemessung von Brillen zugrunde liegt, ist für Christiane Ganser nicht das Maß aller Dinge. Ihr geht es um den „Visus“, die Sehfähigkeit. Die Dioptrienzahl sage nur etwas über das Auge als Organ aus, der Visus werde so nicht gemessen. Vor allem sage die Dioptrienzahl nichts über das Entscheidende aus: die Verarbeitungsprozesse im Gehirn. Hier setze ihre Therapie an.
Sie stützt sich bei ihrer Arbeit auf Studien des Arztes Dr. William Bates aus den dreißiger Jahren. Bates gilt als Begründer der Sehtherapie. Er entwickelte als erster konkrete Übungen zur Steigerung der Sehfähigkeit. Zwar seien in die moderne Sehtherapie viele neue Erkenntnisse eingeflossen, für Christiane Ganser ist Bates' Einfluß auf die Sehtherapie jedoch mit dem Sigmund Freuds auf die Psychoanalyse vergleichbar.
Doch wie sieht eine Therapie nach Bates aus? Die Vorstufe bildeten Entspannungs- und Sehübungen in der Gruppe, so Christiane Ganser. Die richtige Sehtherapie beginne indes erst in der Einzelsitzung. Hier gehe es darum, die Persönlichkeit und den individuellen Sehstil herauszuarbeiten. Jeder Mensch sehe anders, und die individuellen Sichtweisen seien geprägt von kindlichen Traumata und psychischen Belastungen. Und genauso wie der Blick eines jeden durch bestimmte Erfahrungen getrübt sei, habe jeder Fähigkeiten, die dagegen entwickelt werden könnten. In den Übungen gehe es darum, diese Potentiale zu wecken. Grundsätzlich gehe eine Sehtherapie ähnlich vor wie eine Psychotherapie, nur liege der Schwerpunkt auf dem Auge. Spannungen müßten gelöst und die Aufmerksamkeit auf den Sehvorgang selbst gelenkt werden.
Bezahlt werden müssen Sehtherapien allerdings fast immer aus der eigenen Tasche. Nur wenige Krankenkassen, wie die DAK Frankfurt, finanzieren Sehtherapien. Und das, obwohl klinische Untersuchungen die Wirksamkeit von Sehförderung belegen. So führte in Kanada eine Modelltherapie bei den Teilnehmern zu einer nachgewiesenen Steigerung der Sehfähigkeit von 30 Prozent.
Auch Christiane Ganser kann Erfolge vorweisen. Einer ihrer Patienten litt unter trockenen, brennenden Augen und verbrauchte flaschenweise Augentropfen. Nach einer augentherapeutischen „Strecken-Rekeln-Gähnen“- Übung war er die Beschwerden los. Doch seine Krankenkasse weigerte sich, die 40 Mark für die einstündige Sitzung zu zahlen. Christiane Ganser hält die Einstellung der Kassen für fatal. Da Fehlsichtigkeit nicht schmerze, sei die Bereitschaft, sich therapieren zu lassen, ohnehin gering. Dadurch seien Sehtherapien relativ selten und ihre Erfolge würden nicht bekannt.
Sehtraining wird bei den Gesundheitstagen der Berliner Volkshochschulen in Schnupperkursen vorgestellt: 25. 10. von 19.30–21.00 Uhr und 27. 10. von 12.00–13.30 Uhr. Tobias Rapp
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen