„Heißer Herbst“ bleibt kühl

In Paris beteiligte sich gestern nur eine Minderheit der Staatsangestellten am Streik. Viele sind enttäuscht über die Gewerkschaften  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Ich laß mir doch nicht von irgend einer Gewerkschaft sagen, was ich zu tun und zu lassen habe“, sagt der Busfahrer mit dem schweren, silbernen Gehänge im linken Ohr. Im vergangenen Jahr hat er mehr als drei Wochen lang gestreikt. Das hat zwar „tierisch viel gekostet“, weil er seinen Lohn nicht bekam, aber er hat es nicht bereut. An diesem Donnerstag ist die Sache anders. Da fühlt sich der junge Mann „nicht betroffen“. Er kutschiert seine Nummer 96 wie üblich von der Porte de Lilas am Ostrand von Paris den Hügel hinunter in die Stadt hinein.

Die meisten seiner Kollegen machen es ähnlich. Streiken ist Privatsache. „Eine individuelle Entscheidung“, sagen sie. An diesem Donnerstag ist der Himmel über Paris dunkelgrau. Es regnet Bindfäden. Während die zentrale Demonstration der Streikenden Aufstellung auf der Place de la République nimmt, fließen Bus- und Metroverkehr fast wie an normalen Tagen.

Am frühen Morgen haben die Busfahrer im Depot noch einmal die Argumente der streikenden Gewerkschafter angehört. Es fielen die üblichen Stichworte. „Stellenkürzungen im öffentlichen Dienst“ und „Privatisierungen“ und „Kaufkraftverlust“. Anschließend gingen die Kollegen unterschiedliche Wege. 20 Prozent zur Demonstration. 80 Prozent zur Arbeit.

Manche französischen Journalisten haben seit Wochen den Beginn eines „heißen Herbstes“ für diesen Donnerstag angekündigt. Die Meinungsforscher hatten ihnen „gewaltigen Unmut“ auf allen Ebenen der französischen Gesellschaft übermittelt – vor allem in den Betrieben. „Stimmt, wir haben die Schnauze voll“, sagt ein Busfahrer, der auch nicht streikt, „aber die Gewerkschaften sind halt nicht mehr das, was sie mal waren.“ In seinem Depot gibt es Streikende, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, und Kollegen, die an diesem Donnerstag arbeiten, obwohl ihre Gewerkschaft zum Streik aufgerufen hat.

Vor einem Jahr, am 10. Oktober 1995, als die erste große Demonstration des öffentlichen Dienstes die wochenlange Streikbewegung eröffnete, schien die Sonne. Die Straßen von Paris waren hoffnungslos verstopft. Alle Busse und die Metro standen still. Am gestrigen Donnerstag dagegen ist der Place de la République eine Stunde nach dem Beginn der Aufstellung immer noch übersichtlich. Zwischen den Demonstrantengruppen klaffen schulraumgroße Freiräume. Lautsprecherwagen füllen die Luft mit Schlagermusik.

Um elf Uhr ertönt an der Zugspitze ein lautes Pfeifkonzert. „Schlampe“, schreit eine alte Frau von dem hochliegenden Trottoir auf die Demonstration herunter, an deren Kopf eine Menschengruppe unter einem blauen Regenschirm ankommt. Die Umstehenden johlen und klatschen beifällig. Fäuste und Stinkefinger erheben sich. Der Ruf: „Notat – Verräterin“, wird laut. Die Chefin der Gewerkschaft CFDT, Nicole Notat, die im vergangenen Jahr den Demonstrationen fernblieb und seither wichtigste Unterhändlerin der französischen Regierung wurde, hat Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich vorgeschlagen und eine Reform der Sozialversicherung, die der von Premier Alain Juppé ähnlich ist. „Kollaborateurin“, kreischen Mitglieder der CFDT-Basis, die sich bei den letzten Gewerkschaftswahlen nicht gegen Notat durchsetzen konnten. Notat wird bedrängt, dann abgedrängt. Aber sie bleibt lückenlos umringt von kräftigen, jungen Männern.

Am frühen Nachmittag läßt der Regen nach, der Himmel über Paris klärt auf. Jetzt sind kaum noch Metrozüge unterwegs. Bei der Eisenbahn verkehrt schon seit dem Vorabend nur jeder dritte Zug.

War der Streik ein Flop? Die kommunistischen Eisenbahner in der Demonstration sind vom Gegenteil überzeugt. Der anarchistische Lehrer aus der Banlieue findet die 30 Prozent Streikbeteiligung in seiner Schule einen „guten Anfang“. Der Busfahrer von der Nummer 96 zuckt die Schultern. „Das ist halt das Risiko, wenn die Gewerkschaften zum Streik aufrufen.“