Der Verwalter leerer Kassen

Mit Finanzminister Theo Waigel wird das Loch in der Kasse immer größer. Selbst die Koalition kritisiert ihn als reformunwilligen Zauderer  ■ Von Markus Franz

Am 13.10. 1982 gab Bundeskanzler Helmut Kohl seine Regierungserklärung ab. „Ende diesen Jahres“, empörte sich der frischgebackene Kanzler, „wird sich der Schuldenstand des Bundes auf über 300 Milliarden Mark erhöhen. Wenn nicht rasch gehandelt wird, steigt die tatsächliche Haushaltslücke für 1983 allein beim Bund auf etwa 55 bis 60 Milliarden Mark.“ SPD-Abgeordnete lachten. An dieser Stelle vermerkt das Protokoll „Zurufe von der SPD – Dr. Waigel: ,Da lachen die noch.‘“

Heute lacht im Bundestag Dr. Theo Waigel, wenn ihm die zerütteten Staatsfinanzen vorgehalten werden: mit gequält nach unten gezogenen Mundwinkeln, kopfschüttelnd und mit abfälligen Handbewegungen. Wohl ist ihm nicht bei diesem Lachen. Drum will er am liebsten raus.

Raus aus dem ungeliebten Job, aber da das nicht geht, wenigstens raus aus der Sitzung des Bundestages, wo ihm die SPD höchst unangenehme Zahlen unter die Nase reibt: Zwei Billionen Mark Staatsverschuldung, 59 Milliarden Mark Neuverschuldung für den Haushalt 1997, achtzehn Milliarden Mark Deckungslücke. Raus, wie vor einigen Wochen bei der Rede des haushaltspolitischen Sprechers der SPD, Karl Diller, als dieser ihn der Scheinheiligkeit bezichtigte.

Ob Freund, ob Feind, fast alle sind sich einig: Der CSU-Vorsitzende Theo Waigel hat keine Lust auf seinen Job als Finanzminister, der so wenig zu seinem lebens- und sinnesfrohen Naturell zu passen scheint. Vielleicht erklärt das, weshalb er ein Finanzminister ohne Fortune ist, ohne Gestaltungskraft, einer, der seine Politik häufig nach Urteilen des Bundesverfassungsgerichts korrigieren muß, ein bloßer Verwalter einer immer leereren Kasse.

Selbst in der Union ist Theo Waigel stark umstritten. Er sei nicht aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen, vermittle keine Perspektiven. Doch keiner wagt, ihn öffentlich zu kritisieren. Solange er CSU-Chef ist, heißt es bedauernd, sei nicht an ihm zu rütteln.

Der zweite Sohn eines Maurers und Landwirts aus dem kleinen, kirchenlosen schwäbischen Oberrohr würde gern öfter im Biergarten sitzen, sein Weizenbier schlürfen, Anekdötchen erzählen oder schlagfertig austeilen, was er besser als die meisten anderen Politiker beherrscht. SPD-Abgeordnete beherzigen die Devise, Waigel besser nicht mit Zwischenrufen zu reizen, um ihm keine Gelegenheit zu geben, seine ansonsten trockenen Reden aufzupeppen.

Seit Waigel zum zweitenmal verheiratet ist und erst recht seit der Geburt seines Sohnes Konstantin, mag er seinen Gastarbeiter-Job in Bonn noch weniger. Seine Frau, die ehemalige Skirennfahrerin Irene Epple, macht ihm Dampf, will, daß er mehr Zeit bei der Familie verbringt. „Da kracht's unter der Hütte“, sagt ein Beobachter. Zwar hat sich Waigel neuerdings auf die Masche verlegt, Spaß an seiner Arbeit herauszukehren, doch ironische Sprüche wie: „Ich hatte soviel Vergnügen im Kabinett, ungeteilte Zustimmung, fast Liebe. Ich schleppe mich von Sieg zu Sieg“, zeigen eher, wie es um ihn steht.

Es ist noch nicht lange her, daß er „Di-Mi-Do-Minister“ genannt wurde, weil er gewöhnlich nur an drei Tagen pro Woche in Bonn weilte. „Ein Jahr als Finanzminister sind für mich wie sieben Hundejahre“, hat Waigel einmal gesagt.

Wie enttäuscht war Waigel, als ihn Edmund Stoiber bei der Nachfolge für den gescheiterten bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl ausbootete. Da hatte er für ein paar Tage sogar überlegt, alles hinzuschmeißen. Schließlich gibt es, wie er so schön sagt, „auch ein Leben vor dem Tod“.

Oppositionspolitiker berichten, daß er schon so sehr auf seine neue Rolle als künftiger Ministerpräsident fixiert war, daß er sich beim Bund-Länder-Tauziehen um die Finanzverteilung von den Ländern über den Tisch ziehen ließ. Und in diesem Jahr, dem denkbar spannendsten für einen Finanzminister, verstummen die Gerüchte nicht, daß er Außenminister und gar Bundespräsident werden will.

Doch erst muß er die Schuldenkriterien für die Währungsunion erfüllen. Damit er sich mit Anstand aus seinem Amt verabschieden kann, das er im kommenden April acht Jahre lang ausübt.

Lediglich zu Beginn seiner Laufbahn als Finanzminister hat Waigel gestalterisch eingegriffen. Und das ging gründlich schief. Als Morgengabe für die Vermögenden schaffte er die Quellensteuer ab. Launig erklärte er: „Da saß die kleine häßliche Kröte und sagte: Ich bin die Quellensteuer. Und ich sagte: Ich bin der Theo und dich gibt's bald nicht mehr.“

Das Bundesverfassungsgericht fand das gar nicht lustig. Zinsen müssen versteuert werden. Theo mußte eine Zinsabschlagssteuer einführen. Ein Abgeordneter spottete: „Du bist der Theo und ich bin wieder hier, als Zinsabschlagssteuer.“

Mit Theo Waigel läßt sich eben besser spaßen als Politik machen. Waigels größter Flop war der Buckeltarif, bekannt als „Waigel-Buckel“, der ihn 1993 fast um das Amt gebracht hätte. Um die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen, das Existenzminimum steuerfrei zu stellen, verfiel er auf eine Umgestaltung des Steuerrechts, die gerade die kleineren Einkommen mit besonders hohen Steuersätzen belastet hätte.

Die SPD-Finanzexpertin Ingrid Matthäus-Maier zeigte im Bundestag eine Grafik und sagte: „Das ist der Waigel-Buckel“. Waigel verlor die Contenance und meinte, er würde ja auch nicht vom „Matthäus-Maier-Bauch“ sprechen. Der Scherz ging – ausnahmsweise – in die Hose. Und sein Buckel fiel ins Wasser.

In diesem Jahr hatte es Waigel, der zwei juristische Staatsexamen mit Prädikat absolvierte, wieder besonders schwer. Er muß für Maastricht sparen, die hohe Arbeitslosigkeit und die flaue Konjunktur führen zu Milliardenlöchern. Der Popstar Michael Jackson sagte wegen der Waigelschen Künstlerbesteuerung seine Deutschlandtournee ab. Edmund Stoiber lästerte, „jetzt knallt der Theo völlig durch“, nachdem Waigel versuchte, die Länder mit der ersatzlosen Streichung der Vermögenssteuer zu disziplinieren. Und die Woche fragte im Mai erstaunt, warum denn niemand Waigel zum Rücktritt auffordere.

Das Geschenk Gottes (so die Bedeutung des Namens Theodor) hatte gerade ein Haushaltsloch in Höhe von 10 Milliarden Mark offenbaren müssen. Doch es kam noch dicker. 3,5 Milliarden Mark fehlen Waigel, weil die Koalition gegen den Widerstand der Opposition erwartungsgemäß die Erhöhung des Kindergeldes nicht verschieben kann. Weitere zwei Milliarden Mark werden der Erhöhung des Grundfreibetrags zum Opfer fallen. Vor einigen Tagen mußte Waigel einräumen, daß ein Teil der eingeplanten neun Milliarden Privatisierungserlöse nicht mehr zu erzielen sind. Den FDP- Wirtschaftssprecher Otto Graf Lambsdorff veranlaßte das zu der bissigen Bemerkung: „Teilweise fragt man sich, ob demnächst Lottogewinne eingeplant werden.“ Daß die Privatisierung der Lufthansa aus europarechtlichen Gründen 1996 nicht vorankommen würde, sei offenbar jedem bis auf den Finanzminister klar gewesen.

Versagt hat Waigel aber vor allem als Steuerreformer. Er versucht sich zwar neuerdings an die Spitze der Koalitionsbewegung zu setzen, die eine Entlastung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent und des Eingangssteuersatzes auf unter 20 Prozent fordert. Doch damit läuft er nur dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble hinterher.

Wie reformunwillig, zögerlich, und mutlos Waigel ist, zeigte sich besonders deutlich, als er Ende vergangenen Jahres das Gutachten des Wirtschaftsprofessors Hans- Peter Bareis zur Steuerreform zu den Akten legte. Joschka Fischer kommentierte das mit den trefflichen Worten: „Er las es, bekam einen cholerischen Ausbruch und warf es angewidert in den Papierkorb.“ Hinterher habe er „mit dem Kopf in den Papierkorb eintauchen und mit den Zähnen das Gutachten wieder herausfischen“ müssen. In der Tat macht sich Waigel nun notgedrungen einen Teil der Bareis-Vorschläge zu eigen.

Doch Waigel ist nicht an allem allein schuld. Schließlich liefern ihm Wirtschaftsforschungsinstitute sowie das Wirtschaftsministerium die Konjunkturdaten für die Steuerschätzung. Seine Gegner sagen, Waigel müßte kritischer gegenüber günstigen Konjunkturprognosen sein. Und für die negative Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist er auch nicht allein verantwortlich zu machen. Aber er ist eben ein Ertrinkender, der nach jedem Strohhalm greift. Markus Franz