„Die Konturen des Machtkampfes werden sichtbar“

■ Der russische Bürgerrechtler Lew Kopelew hält die behaupteten Putschgelüste Alexander Lebeds für eine Lüge

taz: Was ist dran an den Gerüchten, Jelzins Sicherheitsberater Lebed plane einen Putsch?

Lew Kopelew: Das alles ist doch eine Lüge und auf der ganzen Linie absurd. Daß es jetzt in der Armee gärt und unruhig ist, ist nur natürlich bei der desolaten Situation in den Streitkräften. Daraus soll Lebed jetzt ein Strick gedreht werden. Die angeblichen Beweise sind schon abenteuerlich. Man stelle sich einmal vor: Die Tschetschenen sollen an der Seite Lebeds in den Moskauer Machtkampf eingreifen. Die Tschetschenen werden niemals in einen Streit in Moskau eingreifen. Sie kämpfen für die Freiheit ihres Landes. Auch die Behauptung, Lebed wolle eine eigene Sondertruppe aufstellen, ist genauso abwegig. Denn diese 50.000 Soldaten, das sind die Mitglieder der Präsidentengarde, die von General Korschakow befehligt wurde. Was wir jetzt erleben, ist ein harter Machtkampf, wobei die Konturen, dank der Presse, die immer noch frei ist, erst langsam sichtbar werden.

Die Vorwürfe an die Adresse Lebeds kommen in der Hauptsache von Innenminister Anatoli Kulikow. Welches Interesse könnte Kulikow dabei verfolgen?

Kulikow ist ein korrumpierter Schuft. Er ist sowohl mit verschiedenen Unternehmen als auch mit der Mafia verbunden. Lebed verfügt über genügend belastendes Material, um das zu beweisen. Und das zwingt Kulikow zu solchen dummen und radikalen Gegenmaßnahmen wie den Gerüchten über den Putsch. Den Ruf „Haltet den Dieb!“ gibt in diesem Fall der Dieb selbst am lautesten von sich. Vielleicht bereitet Kulikow selbst einen Putsch vor. Die beste Möglichkeit, das zu maskieren, ist, andere eines Putsches zu verdächtigen. Übrigens hat Lebed bereits vor einigen Monaten diese Anschuldigungen gegen Kulikow erhoben. Damals hat das Jelzin aber nicht ernst genommen.

Welche Rolle spielt der russische Präsident Boris Jelzin?

Jetzt ist seine Rolle völlig unklar, der Präsident ist ja kaum arbeitsfähig. Und man weiß im Moment auch überhaupt nicht, wer ihn wie beeinflußt und seine Entscheidungen mitbestimmt.

Wagen Sie eine Prognose?

Das pyramidale System, das Rußland immer noch darstellt, ist ein großes Problem. Denn jetzt ist die Spitze schwach und verschwommen. Deshalb ist die Situation heute so, daß alles passieren kann. Rußland ist das Land der größten Möglichkeiten, aber auch der größten Unmöglichkeiten. Langfristig wird Rußland aber auch diese Krise überwinden. Daß es dazu in der Lage ist, hat es in seiner Geschichte schon mehrfach bewiesen. Interview: Barbara Oertel