Nur Fallen ist schöner

■ Die taz geht in die Luft (4): Bremen im Fallschirm-Tandemsprung aus 3.000 Meter Höhe – Die Welt reduziert sich auf ein „Entweder/Oder“ - Ein Selbstversuch von Susanne Raubold

Bin ich in das Filmset für die neueste Jeans-Werbung hineingeraten? Auf dem kleinen Privatflugplatz in Gandekersee bei Oldenburg inszeniert man gerade das große Warten. Vor der Hauptsache, den wenigen Sekunden die der Fallschirmspringer wirklich in der Luft verbringt, liegt viel leere Zeit, die totgeschlagen werden will. Die Jungs mit den kurz geschorenen Haaren verstehen sich darauf. Lässig sind die Ärmel der Fallschirmspringer-Kombi um die Hüften geschlungen, man zeigt gebräunte Oberkörper und Muskelspiel. „This is a man's world“, mit Testosteron bis zum Anschlag. Wer hier die Kunst des Abhängens pflegt, der weiß, was er sich und dem Männlichkeitsritual schuldig ist: Den Kronkorken nie mit einem ordentlichen Feuerzeug abhebeln, mit dem Zippo-Feuerzeug den einhändigen Flammenwurf üben und – den freien Fall aus den Wolken.

Denn süchtig macht den Fallschirmspringer nicht etwa der sanfte Gleitflug, mit dem er zur Erde niedersegelt, sondern die Sekunden, bevor sich der Schirm öffnet. Freier Fall heißt die Droge, die den Körper auf 200 km/h beschleunigt. In einer schwachen Minute entfährt Steffen Ahrens die Zuspitzung der Fallschirmspringer-Philosophie: „Den Fallschirm nehmen wir nur mit, weil es sonst tödlich wäre.“

Aber für gewöhnlich neigt Steffen Ahrens nicht zum Sprücheklopfen, im Gegenteil. Er geht äußerst pädagogisch vor mit Neulingen, die noch zögernd vor dem großen Abenteuer Fallschirmspringen stehen. Und er bietet einen Service ganz besonderer Art: Seine eigene Risikobereitschaft. Denn im Tandemsprung verkoppeln sich Sprungmaster und Novicen so eng miteinander, daß sie gemeinsam abspringen, fallen, gleiten und landen. Also wahrhaft kein Grund zur Sorge. So käme ich ohne die geringsten Vorkenntnisse sanft zur Erde zurück. Dabei spüre ich noch keine Bedenken sondern nur eine große Neugierde und Lust, einmal aus großer Höhe zu springen. Aber ich habe auch keine Ahnung, was da auf mich zukommt.

Im Korridor zwischen Schulungsraum und Büro der kleinen Fallschirmsportschule hängt ein Kinoplaket „drop zone“, der Kultfilm der Fallschirmspringer. In dem actionreichen Streifen scheint das Springen aus den Wolken den Ak-teuren noch nicht genug der Spannung. Statt dessen immer wieder Szenen, in denen die tolldreisten Jungs sich gegenseitig die Fallschirme vom Rücken reißen. Um im letzten freien Fall dann doch noch bei einem anderen Springer mit Schirm anzudocken. Überholmanöver in der Luft. Und wo sonst PS-starke Motoren aufgeboten werden müssen, da wirkt in „drop zone“ einzig und allein die Fallgeschwindigkeit.

Im Schulungsraum laufen die Videos vom letzten Absprung der Flugschüler. Steffen Ahrens gibt dazu immer wieder Sicherheitsparolen heraus. Wieder und wieder rätsele ich, was diesen sanften Mann mit der beruhigenden Stimme dazu gebracht hat, sich immer erneut aus den Wolken zu stürzen.

„Bald wirst Du mich besser verstehen“ sagt er, blickt mich aus stahlblauen Augen an und beantwortet meine Frage nicht. Zeitsoldat bei der Bunderwehr war er wie viele der Fallschirmspringer. Vor etwa 12 Jahren ist er zum ersten Mal über der holländischen Insel Texel abgesprungen. Ein einschneidendes Erlebnis, das sein Leben veränderte. Denn nun folgte Sprung um Sprung. Der Wunsch festigte sich bei Steffens mit der Leidenschaft für den Fallschirm seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mittlerweile hat Steffen Ahrens ca. 3.000 Sprünge absolviert und seit eineinhalb Jahren betreibt er eine Fallschirmsportschule in Gandekersee. Hier trifft ein buntes Grüppchen. Neben alten Hasen die mehr in der Luft als auf der Erde zu leben scheinen, auch eine steigende Zahl von Neulingen. Blut geleckt haben die meisten bei einem Tandemsprung.

Unterdessen hat sich die Lage hoch oben in den Wolken verändert – ist „springbar“ geworden. Termische Ablösungen haben sich gelegt Ich verstehe nur Bahnhof. Aber auch mir teilt sich mit, daß die Spannung steigt.

In Trockenübungen habe ich das Prinzip des Tandemsprungs mittlerweile verstanden. Fest verbunden mit starken Karabinerhacken, werde ich mit meinem Tandempartner aus dem Flugzeug springen. Einige Zeit lang werden wir wie siamesische Zwillinge sein, was er macht, wird auch mein Geschick sein. Das Restrisiko eingeschlossen. Aber mit Vertrauen allein ist es nicht getan. Auch für mich gibt es einiges zu tun, schließlich werde ich als erste zur Tür hinaus müssen und es schaffen im heftigen Gegenwind auf einen schmalen Steg außerhalb des Flugzeugs zu treten. Später im Fallen soll ich versuchen Arme und Beine nach hinten zu streckenund ins Hohlkreuz zu gehen. Das sichert beim Sturz die Bauchlage. Meint Steffen, ich schaue ihn skeptisch an, ob mir das kopfüber wohl wieder einfällt? Na ja, aber das Wichtigste kommt noch: „Mach bloß nicht vor Schreck die Augen zu, wenn Du nichts siehst, dann ist alles umsonst.“

Aus der Vorbesprechung wird Realität. Um uns herum entsteht Bewegung. Fünf Fallschirmspringer machen sich bereit. Sie haben ihre Kombis geschlossen, die Körpergurte angelegt und die leichten Rucksäcke, in denen sich der Fallschirm befindet, geschultert. Nur sechs Kilogramm wiegt das komplizierte Gespinst aus 88 Meter Leinen und 26 Quadratmetern Fallschirmseide. Die große Kunst ist es, den Schirm so korrekt zusammenzulegen, daß er sich beim Öffnen nicht verheddert. Jeder springt mit selbst zusammengelegtem Schirm. Und dennoch. Bei der letzten Kontrolle, kurz bevor seine Schüler in den Flieger, steigen entdeckt Ahrens noch einen eklatanten Fehler in der Ausrüstung. Das hätte schlimm ausgehen können. Ich bekomme langsam Respekt.

Aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Mit lautem Motorengebrumm schraubt sich die Cessna in die Höhe. Der Flugplatz, die Weizenfelder, alles wird langsam kleiner, dafür wird es kalt und kälter. Abgegriffen wie ein alter Werkzeugkasten bietet die Maschine keinerlei Komfort. Keine Sitze, keine Isolierung und die Tür scheint sich auch von selbst zu öffnen. Dicht gedrängt hocken wir in der kleinen Maschine. Die jungen Gesichter unter dem Kurzhaarschnitt wirken gespannt. Bin ich in einem Film oder kann ich hier noch aussteigen? Doch dann ist der Moment vorbei, der Strudel des Actionismus hat mich erfaßt. Ich will wissen, wie es weiter geht. Unsere Sprunghöhe ist erreicht. 3000 Meter zeigt der Höhenmesser den jeder am Arm trägt. Das ist das Zeichen. Ein Blick aus dem Fenster rückt Abenteurerlust und Größenwahn zurecht. Wir sind winzig klein in unserer seltsamen Propellermaschine, die wir gleich verlassen werden. Der Weg bis zum sicheren Boden scheint mir enorm weit. Doch solche Überlegungen werden nur im Sessel angestellt, denn der Körper ist schon von einer Euphorie erfaßt. An die Stelle der Angst ist die Lust getreten. Mit einem lauten Schrei stürzen sich die ersten aus der Luke. Nun bin ich an der Reihe. Eisig bläst mir der Wind ins Gesicht. Wie um Gottes Willen soll ich außerhalb der Kabine einen sicheren Stand finden?

Doch dann ist auch dieser Realitätsbezug verloren. Ein Blick in die Tiefe und der Sog erfaßt mich. Unwiderstehlich. In die Tiefe zu stürzen erweist sich als pure Lust. Der Fall gehört zu einer andern Welt. Die Geschwindigkeit ist atemberaubend. Alles bleibt hinter mir. Es gibt keine Geschichte, keine Erinnerung, keine Identität. Wer da durch die Kälte des Nichts fliegt, das bin nicht mehr ich. Alles ist leicht und wie neu, als lebte ich zum ersten Mal und vor mir läge ein unbekanntes Land. Ob das Neugeborene sich so fühlt, wenn es zur Welt kommt? Philosophische Fragen, die erst im Nachhinein zu stellen sind. Die Welt reduziert sich auf entweder/oder. Schwarz oder weiß, Fall und fallende, Leben oder Tod. Was danach kommt, das könnte auch mein Ende sein, in diesem Moment hätte es mich nicht geschreckt.

Dann endet die zeitenlose Zeit ganz abrupt. Der Fallschirm öffnet sich planmäßig in 1500 Meter Höhe. Und nur 30 Sekunden sollen vergangen sein? Das sanfte Abgleiten ist ein ästhetischer Genuß im Vergleich zur Droge des freien Fall. Gemächlich und sanft schweben wir hernieder und immer bekannter kommt uns die Welt vor. Weil die Glückshormone noch den Körper überschwemmen erscheint der sanfte Anflug auf die sichere Erde noch gepflegter. Unter uns erscheien die Furchen der gelben Kornfelder wie mit dem Rechen gezogen. Als wir tiefer kommen steigen fünf große Raben auf. Sie fliegen uns entgegen.

Wer sich für Tandemsprünge interessiert kann nähere Informationen bei der Fallschirmschule Ganderkesee bekommen. Steffen Ahrens o422/70960