„Wir sind die Letzten“

„Fremde, ja feindliche Ansichten“: Letzten Donnerstag wurde der Schriftsteller Günter Kunert mit dem Hans-Sahl-Preis ausgezeichnet  ■ Von Peter Walther

Biermann kann die DDR nicht kaputtmachen, auch Stefan Heym kann die DDR nicht kaputtmachen und auch Kunert nicht. Aber die DDR kann Kunert kaputtmachen.“ Daß dieser Satz weit am tatsächlichen Geschehen vorbeigehen würde, mag damals weder Kunert noch jener Parteifunktionär geahnt haben, der sich zu der Äußerung hinreißen ließ. Der Schriftsteller Günter Kunert ist jedoch nicht erst 1976 als Mitunterzeichner der Biermann-Petition ins Schußfeld der Funktionäre geraten. Schon 1952 beschwerte sich der Dichter-Funktionär Kurt Bathel (Kuba) bei Kulturbundchef Johannes R. Becher, daß Becher solche Leute wie Kunert fördere. Ein reichliches Jahrzehnt später hieß es dann auf dem VI. SED-Parteitag, in den Werken von Kunert „tauchen uns fremde, ja feindliche Ansichten auf.“ Sic transit gloria mundi: Der solcherart Gescholtene konnte am Donnerstag im Palais am Festungsgraben den Hans- Sahl-Preis des Autorenkreises der Bundesrepublik entgegennehmen, der von der Kultur-Stiftung der Deutschen Bank gespendet wurde.

Mit dem Namen des Preises ist ein Programm verbunden: Der Lyriker und Publizist Hans Sahl hat sein Leben lang gegen die Ideolgen von rechts und links angeschrieben. Zu einer Zeit, als der Protest gegen Stalin als Schwächung der Anti-Hitler-Koalition begriffen wurde, hat sich der jüdische Emigrant von seinen einstigen Genossen abgewandt und die Moskauer Schauprozesse verurteilt. „Exil im Exil“ hat er seine Autobiographie genannt. Ein Emigrant ist Hans Sahl beinahe zeitlebens geblieben. Abgesehen von einer Episode in den fünfziger Jahren kehrte er erst 1989 aus den USA nach Deutschland zurück, wo er sich in Tübingen niederließ. „Greift zu, bedient euch. Wir sind die Letzten“, hat er den Jüngeren als einer der letzten Vertreter jener Generation zugerufen, die das Kulturleben der Weimarer Republik, die Nazidiktatur, Verfolgung, Exil und Krieg erlebt haben. 1993 starb der Dichter hochbetagt in Tübingen.

In seiner Laudatio zog Ralph Giordano Parallelen zwischen dem eigenen und dem Lebensweg des Geehrten. Wie einst Kunert, war auch Giordano – als Mitglied der KP in Hamburg und Student des Literaturinstituts in Leipzig – vom Menschheitsbeglückungstraum beseelt. Mit Prosaskizzen für die Presse und mit seinem ersten Gedichtband, „Wegschilder und Mauerinschriften“ (1950), hatte Günter Kunert sich früh einen Namen gemacht, Brecht und Becher waren seine Förderer. Doch indem er gegen die platte Fortschrittsideologie jener Jahre die Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit setzte, handelte er sich früh den Vorwurf des Defätismus und kleinbürgerlichen Geschichtsdenkens ein.

Bei aller Skepsis gegenüber der Entwicklung in der DDR blieb Günter Kunert bis zum Jahr nach der Biermann-Ausbürgerung Mitglied der Staatspartei. Giordano rühmte in seiner Laudatio die Produktivität des Schriftstellers. Kunert ist nicht nur durch seine Lyrik hervorgetreten, sondern hat überdies in mehr als 60 Buchausgaben Kurzprosa, literarische Reflexionen, Reiseskizzen und einen Roman vorgelegt. Daneben sind zahlreiche Hörspiele, Drehbücher, Reportagen, Rezensionen, Liedtexte, ein Theaterstück und ein umfangreiches essayistisches Werk entstanden. Anders als bei Giordano bedeutete die Abkehr Kunerts von der Partei auch einen schwerwiegenden biographischen Einschnitt. 1979 übersiedelte er mit einem Dauervisum in den Westen, und seitdem wohnt er in Kaisborstel in Schleswig- Holstein.

„Quer zu den herrschenden Mächten“, hat Giordano seine Rede überschrieben, ein Motto, das für Hans Sahl ebenso wie für den Preisträger gilt. Günter Kunert sparte in seiner Dankrede nicht mit Kritik an dem Aktionismus, mit dem in den letzten Jahren die Gräben zwischen Ost und West zugeschüttet wurden und Schuld vergeben wurde, ohne die Schuldigen auch nur namhaft zu machen. Er warnte mit Blick auf die angehende PEN-Vereinigung vor dem „obskuren Frankenstein-Projekt, bei dem zusammenwächst, was nicht zusammengehört“. Jenen im Westen, die die Solidarität mit den Opfern verweigern und sich laut fragen, wie sie sich wohl in der DDR verhalten hätten, gibt er zur Antwort: „Ihr wäret hervorragende Funktionäre, Nationalpreisträger und Zensoren geworden.“ Günter Kunert ist als „Verseschmied einer chronisch gewordenen Depression“ bezeichnet worden. Mit Blick auf den Stand der Dinge scheint es treffender, in ihm mit den Worten Giordanos den „Warner und Mahner“ zu sehen, dem der Stoff nicht ausgehen wird.