Protest aus der Banlieue

Fast die gesamte Musikszene Algeriens lebt im Pariser Exil. Doch die Morde an Popsängern schüchtern nicht nur ein, sie geben dem Rai auch neue Botschaften. Unter Parolen wie „L'Algérie, la vie!“ geht die Vorstadt auf die Barrikaden  ■ Von Thomas Haak

Eine Fußballtribüne in Algier. Tarik und seine Freunde feuern ihren Verein USMA mit rhythmischem Klatschen und Sprechchören an. Doch dann singen sie ein Lied. Zunächst leise, dann immer lauter werdend: „Gebt mir ein Visum, damit ich abhauen kann.“ Abhauen wie ihre Helden und Hoffnungsträger, die Stars der Rai-Musik, die im französischen Exil eine Zuflucht gefunden haben.

Kein ungefährliches öffentliches Aufbegehren, wie die Ermordung des Rai-Sängers Cheb Aziz erst vor wenigen Wochen wieder bewies. Ein Mord, der besonders junge Algerier an den 29. September 1994 erinnert: den Tag, an dem Cheb Hasni – Idol der algerischen Jugend – in Oran auf offener Straße erschossen wurde. Hasni repräsentierte nicht nur die äußerst populäre Stilrichtung des Rai Love, in der sehr frei über Liebe und Sex gesungen wird, er formulierte auch politische Forderungen, was ihn sowohl zum Dorn im Auge der Islamisten als auch dem der Regierung machte. In seinem Stück „Die Geliebte sehen“ heißt es: „Ich möchte die Geliebte sehen / Seid gerecht, ihr habt mich schikaniert / Ihr habt mir selbst für das Visum Steine in den Weg gelegt / Ihr habt entschieden, mich zu töten / Ich habe Lust, mich zu betrinken, um mich nicht mehr kontrollieren zu müssen / Warum das alles? Ich besitze einen gültigen Paß / Ich habe nicht die Absicht, Ärger zu machen.“

Botschaften, die sich per Musikkassette 1992 innerhalb weniger Tage über 250.000mal verkauften und zur Folge hatten, daß „Die Geliebte sehen“ vom Publikum in „Visa“ umgetauft wurde. In einem anderen Song von Cheb Hasni heißt es: „Mein Schicksal ist nicht hier / Unser Land ist von einem Grollen durchzogen / Würde es hier laufen, würde ich nicht woanders hineilen... / Laßt mich gehen / Die Welt ist groß / Ich bin euer Bruder / Aber die Zukunft ist hinüber.“

Cheb Hasni machte ein Land zum Thema, in dem Konflikte niedergehalten werden, er sang über eine blockierte Bevölkerungsmehrheit, die nur im Exil noch eine Zukunft sah. Der Mord an ihm tötete mehr als einen populären Sänger: In Algerien brachte er den Rai fast endgültig zum Verstummen, in Frankreich jedoch entstand ein neuer Musikstil: der Rai du Message, der Rai mit Botschaft

„Die Ermordung Cheb Hasnis veränderte die Texte, verwandelte die Rai-Szene in eine Protestbewegung“, sagt der Schriftsteller Aziz Chouaki, der bis zu seiner Emigration im Jahre 1992 in Oran einen Musikclub betrieb: „Anfang der achtziger Jahre drehten sich die Texte des Rai lediglich um Sex, Alkohol und Freiheit. Heute existiert ein neues Bewußtsein. Und zwar aufgrund der Dinge, die im Zusammenhang mit dem Islamismus geschehen sind. Man begreift sich als Teil des Ganzen, bezieht Position.“

Seitdem Aziz Chouaki die Geburtsstadt des Rai verlassen hat, lebt er in Paris. Er bewohnt ein Apartment in der achten Etage eines schäbigen Betonklotzes der Vorstadt St. Denis, wo inmitten von 60er-Jahre-Wohnkuben noch die Reste der alten Dorfstruktur zu erkennen sind. In der Ferne kündet der Montmartre mit der Sacré C÷ur von den klassischen Einwanderervierteln Barbès und La Goutte d'Or.

Die Wohnung macht, wie ihr Mieter, einen leicht desolaten Eindruck – was nicht so sehr verwundert: Wie soll man sich in einer Umgebung heimisch fühlen, in der man von Zeit zu Zeit anonyme Morddrohungen erhält? Der Schriftsteller ist ein enger Vertrauter der Szene, der – selbst auch Musiker – auf die wichtige gemeinschaftsstiftende Rolle des neuen Rai für die Menschen aus dem Maghreb verweist: „Zur Zeit erleben wir die Geburt einer sich organisierenden Diaspora. Durch Agenturen, die zum Beispiel Konzerte oder andere Veranstaltungen organisieren, bei denen sowohl algerische Kultur als auch politische Botschaften transportiert werden.“

Vor eineinhalb Jahren gründeten der Kabyle Idir und Khaled, der erste Superstar des Rai, als direkte Reaktion auf den Mord am Rai-Produzenten Rachid Baba- Achmed die Bewegung „L'Algérie, la vie!“ „Wir kämpfen für ein Algerien“, umreißt Idir die Ziele der Organisation, „in dem man Muslim sein und ebenso sein Juden- und Christentum leben kann.“ Prominente Mitglieder der Organisation sind zum Beispiel der Komiker Guy Bédos, ein sogenannter pieds noir, und sein Kollege Smaine, ein beur – ein Algerier der zweiten Generation –, der in Frankreich mittlerweile eine Institution darstellt. Seit der ersten Veranstaltung von „L'Algérie, la vie!“ am 22. Juni im Pariser Zénith fanden eine ganze Reihe großer Veranstaltungen mit Idir, Khaled und anderen Künstlern statt, die besonders in Frankreichs Vorstädten, den Banlieues, eine äußerst wichtige Rolle spielen.

Ein Wohnzimmer im Banlieue- Ghetto Val Fourée: Gemeinsam mit Freunden sieht Cheb Faudel eine TV-Dokumentation seines Idols Khaled. Der aus dem algerischen Tlemcen stammende Junge ist Sänger in einer Rai-Band, die seinen Namen trägt. „Gleich macht er so!“ Faudel imitiert eine typische Khaled-Geste, während seine Augen vor Verehrung glänzen. Faudel kennt jede Bewegung seines Idols. „Geh Oran, geh“, singt Khaled bitter aus dem Fernseher. „Dieses Herz, das dich liebte, ich verbrenne es / Der Fluch der Vorfahren greift um sich, und wer sich ihm nähert, wird fortgerissen / In Oran haben die Prahler Konjunktur / Jeder gibt vor, besser zu sein als der andere / Sie verbringen ihre Zeit damit, Polizei zu spielen / Aber wenn es Nacht wird, habe ich Angst um sie / Selbst El Hamri ist zu Chicago geworden / Den ganzen Tag hagelt es Kugeln / Sie verbringen ihre Zeit damit, Polizei zu spielen.“

Khaleds „Wahrane“, musikgewordener Abschied von Oran und dem Armenviertel El Hamri, stieß auch in einer Banlieue wie Val Fourée auf offene Ohren. Der Trabant der alten Seinestadt Mantes- la-Jolie ist eine Wüste aus Stein, Schauplatz alltäglicher Tragödien, wie sie zum Beispiel der Film „La Haine“ von Matthieu Kassovitz beschreibt. In 21 Stahlbetontürmen wohnen 28.000 Menschen aus 60 Nationen, von denen die meisten aus Schwarzafrika und dem Maghreb stammen. Vier der einst 25 Wohnsilos ließ die Stadtverwaltung 1992 sprengen. Zu marode war die architektonische Ausgeburt der sechziger Jahre nach weniger als drei Jahrzehnten.

Sprengstoff anderer Art hat die soziale Lage in sich: Vor fünf Jahren brannten in der Cité nächtelang Autos und Barrikaden, eine Polizistin und ein Junge kamen ums Leben. Eine Explosion der Gewalt, die in „La Haine“ anhand von Dokumentaraufnahmen wiedergespiegelt wurde. Der Spielhandlung des Films zum Trotz finden gewaltsame Auseinandersetzungen nicht nur zwischen Bewohnern und Polizei, sondern auch zwischen verschiedenen Ethnien statt.

Vier Jahre nach den Vorfällen ist die Staatsmacht in Form der Bürgerkriegspolizei CSR erneut massiv präsent. Seit den Anschlä

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gen in der Pariser Metro 1995 patrouillieren allabendlich martialisch ausgestattete Sicherheitskräfte durch die Problemviertel, in denen die Arbeitslosigkeit teilweise fast fünfzig Prozent beträgt und die Hälfte der Einwohner unter zwanzig Jahre alt ist. Obwohl ihnen Val Fourée kaum eine Lebensperspektive bietet, ist das Quartier für viele Jugendliche notgedrungen zu einer Art Heimat geworden: „Zwanzig Jahre haben wir darin gewohnt. Irgendwie haben wir ihn in unserem Herzen getragen“, kommentiert ein Faudel- Mitglied die Sprengung seines Wohnblocks – und drückt damit den Zwiespalt zwischen Vorstadtelend und Wunsch nach Zugehörigkeit aus.

In seinem Wahlkampf bezeichnete Jacques Chirac das Banlieue- Problem als, wörtlich, „Priorität unter den Prioritäten“. Ein Ministerium für Integration und den Kampf gegen den sozialen Ausschluß wurde eingerichtet, ein Banlieue-Minister berufen. Premierminister Alain Juppé sprach sogar von einem „Marshallplan für die Vorstädte“, dessen Kern die massive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorsehe, was jedoch von Fachleuten aufgrund mangelnder Gelder und Taten als PR-Maßnahme betrachtet wird. Das Banlieue-Problem scheint immer nur dann ins öffentliche Bewußtsein zu gelangen, wenn es zu spät ist – was von der Randlage der Banlieues begünstigt wird.

Seit den Metroanschlägen von 1995 ist es vor allem das Schreckgespenst des Islamismus, das durch die französischen Medien spukt. Dabei hat die Ermordung von Hasni oder auch Aziz sicherlich in den Banlieues die Islamisten ebenfalls nicht beliebter gemacht. Eher schon hat Khaled ein wichtiges Signal für die Banlieue-Kultur gesetzt. Mit seinem Song „Didi“ von 1992 avancierte er zum ersten arabischen Popmusiker, der in die französischen Top cinquante gelangte. Ein Erfolg, der das Genre gravierend verändern sollte: Mittlerweile gibt es Rai in den Ausführungen Rai Love, Rai Reggae, Rai Salsa, Rai Rock, Rai House, Rai Techno oder Rai Disco, dargeboten von Vertretern wie Tarik, Chaba, Zizi, Cheb Tati, Cheb Nasro und vor allem dem jungen Malik, der mit Techno und Trance die modernste Rai-Melange präsentiert.

Frankreichs Musikproduzenten haben offenbar erkannt, daß Rai ein vielseitig anschlußfähiges, gut vermarktbares Grundmuster darstellt, das sich nicht nur auf Frankreich beschränkt. In Israel wurde „Didi“ von einem jüdischen Sänger adaptiert, wobei es besonders in Asien inklusive Japan zu zahlreichen „Didi“-Fassungen kam. Sehr erfolgreich zum Beispiel in Indien. „Dabei handelt es sich um ein Echo“, erläutert Aziz Chouaki, „denn alle Rai-Sänger hörten als Kinder indische Musik und sahen indische Filme, die uns damals zu Tränen rührten.“ Seit seinem internationalen Erfolg ist Khaled auch im französischen Rundfunk etabliert, wird dort häufiger im Mainstream-Radio gespielt anstatt nur in arabophon orientierten Kanälen wie Radio Nova oder Radio Beur.

Gemeinsam mit Cheb Mami stellt er damit allerdings eine Ausnahme dar. Das Resultat einer Untersuchung von Anfang 1990, die die Akzeptanz arabischer Musik beim französischen Publikum überprüfen sollte, läßt sich mit „psychische Allergie“ auf den Begriff bringen, meint Laurence Aloirt, Leiterin der Abteilung „Musik der Welt“ bei Radio France Internationale (RFI).

Vielleicht ist der im vergangenen Jahr veröffentlichte Titel „Danse le rai“ – der erste in französischer Sprache – ja ein Indiz für Veränderung. Zu finden ist er auf Fadelas und Saraouis Album „Walli“, das mit „Hasni“ einen Message-Rai-Rap für den erschossenen Freund enthält. Geschrieben hat das Stück der ehemalige Manager des algerischen Idols. Für ihn ist das Stück eine Kampfansage: an Hasnis Mörder und das Gedankengut, das sich hinter ihnen verbirgt.

Seit einigen Tagen wissen die Mitglieder von Faudel von einem geplanten Auftritt Khaleds in ihrer Stadt. Eine Sensation. Doch damit nicht genug, Faudel sind als Vorgruppe auserkoren. Sie im Vorprogramm von Khaled, der bereits im Alter von 13 Jahren in der algerischen Rai-Szene ein Star war und mittlerweile, wie einige andere Rai-Stars auch, von Leibwächtern und der französischen Polizei geschützt werden muß!

Dann ist der Tag der Wahrheit gekommen: Cheb Faudel und Band müssen vor einem Publikum von über 3.000 Leuten bestehen – was ihnen, obwohl alle auf Khaled warten, auch gelingt. Zwischen den Auftritten kommt es in der Garderobe zu einer Begegnung. Faudel steht seinem Vorbild von Angesicht zu Angesicht gegenüber und kann es noch gar nicht fassen: Der großartige Khaled redet mit ihm völlig ungezwungen, versucht die Ehrfurcht des Jungen im Gespräch aufzulösen. Was nur teilweise gelingt. Schließlich bietet er ihm an, am Ende des Konzerts auf die Bühne zu kommen, um mit ihm gemeinsam „Didi“ zu singen.

Faudels Gesicht läßt keinen Zweifel daran, daß ihm gerade das großartigste Angebot seines Lebens gemacht wurde.

Vom Autor stammt die Hörfunkreihe „Allahs Erben“ auf NDR 4. Morgen, 20.10., „L'Algérie, la vie!“; Sonntag, 27.10., „Von Türken und Deutschländern“, jeweils 22.30 bis 24 Uhr