Zu Besuch in Lebeds Plattenburg

Militärs und Milizionäre bewerten die Entlassung des russischen Sicherheitsberaters durch Jelzin unterschiedlich. Es geht um die Reform der Streitkräfte und natürlich auch um Tschetschenien  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Am Westrand von Moskau, dort, wo die Luft am reinsten ist, wohnt General Alexander Lebed in einer 18stöckigen Betonplattenburg an der Rubljowskojer Chaussee. „Hier sind alle Militärs“, übertreibt der Hausmeister und weist auf eine hundert Meter entfernte Riesenbaustelle, auf der müde minderjährige Soldätchen Schubkarren bewegen: „Und dort werden noch einmal so viele wohnen.“ Also die ideale Gegend für eine kleine Befragung der Bevölkerung zur Entlassung ihres berühmten Nachbarn aus seinem Amt als Sicherheitsberater.

Als erstes treffen wir Michail Iwanowitsch, 42, der – wie alle unsere Gesprächspartner aus der Armee – seinen Familiennamen nicht nennen will. Der Major ist gut genährt und besticht durch eine propere Pelzjacke und glasklare blaue Augen. Als Dozent einer der Moskauer Militärakademien hat er heute frei und begleitet sein achtjähriges Töchterchen zur Schule. Empört hat ihn die Kritik des Ex- Sekretärs des Sicherheitsrats an seinem Chef, Verteidigungsminister Igor Rodionow. Lebed hatte diesem vorgeworfen, eine „verbrecherische“ Mannschaftskürzung bei den Fallschirmtruppen zu planen. „Die Umformierung der Streitkräfte geht schon lange vor sich und ist keine einfache Kürzung. Deshalb stimmt das alles nicht“, doziert Michail Iwanowitsch, „die Charakterisierung dieser Vorgänge als ,kriminell‘ ist völlig unangebracht.“ Im übrigen wolle er sich lieber über Lebed als militärischen Führer denn als Politiker äußern: „Ich versichere Ihnen: Er war ein ganz durchschnittlicher General.“

Böse Zungen munkeln, während der Friedensmission Lebeds in Transdnjestrowien sei es zu Waffenschiebereien gekommen. Ob der angeblich unbestechliche General sich damals Dinge zuschulden kommen ließ, mit denen man ihn heute kompromittieren könnte? Für unseren Dozenten keine Frage: „Ich bin mir dessen mehr als gewiß.“ Im Stab des Baubataillons zeigen sich die hageren Offiziere schlecht gelaunt. Im Freien stoppt dagegen ein kugelrunder Herr freundlich seinen Weg in Richtung Baugrube. Trotz Trainingsanzug outet er sich als Offizier der Bautruppen, 36 Jahre alt, Major und Vater zweier Kinder. Einen Familiennamen hat er nicht, ansonsten heißt er Igor Alexejewitsch. Seit August hat der bekümmerte Familienvater keinen Sold mehr erhalten. Was General Lebed betrifft, so ist dieser seiner Ansicht nach von der Regierung „angeschmiert“ worden. Allerdings gibt der Major dem General „nicht in allen Positionen“ recht. „Was zum Beispiel Tschetschenien angeht, da hat er uns eine Niederlage eingebrockt. Man hätte dieses Ländchen ohne weiteres auf den Boden der konstitutionellen Ordnung zurückbringen können – und zwar nicht unbedingt durch Krieg, sondern mit zivilisierten Methoden, wie zum Beispiel eine Blockade.“

Schon ein wenig entfernt von der Baustelle schält sich ein beleibter Herr in Camouflage-Uniform aus einem Wagen. Er entpuppt sich aber als Nichtmilitär. Trotzdem haben wir hier den vierten Major vor uns: 38 Jahre alt, Vater eines Jungen und eines Mädchens und seines Zeichens Milizionär. Alexander Wiktorowitsch Omachel nennt als erster bereitwillig seinen Namen. Wir stehen einem Untergebenen des Innenministers Anatoli Kulikow gegenüber, der Lebed mit seinen Anklagen zu Fall brachte und ihm Putsch-Absichten unterstellte. „Alles Blödsinn, ich finde diese Vorwürfe einfach unanständig“, funkelt uns der Milizionär verletzt durch eine modisch gefaßte Goldbrille an, „Kulikow sollte die Finger von Schlammschlachten mit anderen Generälen lassen und lieber vor der eigenen Tür kehren. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für Mißstände bei der Miliz blühen.“ Der Major zählt auf, worin seiner Meinung nach die Verdienste General Lebeds bestehen. Er endet: „Und dann der Frieden in Tschetschenien! Selbst ein schlechter Frieden ist mir hundertmal lieber als ein guter Krieg.“