Gestauchte Unendlichkeit

■ Brigitte Kronauer liest aus „Die Einöde und ihr Prophet“

Der Titel ihres vierten Romans, Die Frau in den Kissen, bekräftigte noch im Halbschlaf die lethargische Eingerichtetheit ihrer Frauengestalten. Selbstaufmunternde Gesten des Wachrüttelns haben seit über 20 Jahren ihren festen Platz in der Prosa Brigitte Kronauers. Das macht die Lektüre erträglich. Mitunter stellen sich sogar Glücksmomente ein, weil etwas ins Auge springendes – und sei es auch nur ein aufleuchtender Moosfleck – die Lethargie vertreibt.

Die Wahrnehmungsgeschichten folgen einer labilen Komik, so daß nie ins vollends Groteske abgedriftet wird. Die gesellschaftsgeplagten Protagonistinnen agieren aus einer schmerzlichen Heimlichkeit heraus: beim unnachsichtigen Blick in den Spiegel, beim Sortieren von Familienphotos oder beim wetteifernden Geruchsspiel zwischen Blumentopfreihen entstehen dubiose Momente der Verwirrtheit. Immer wieder verzahnt Kronauer Innen- mit Außenansichten, in denen sie einen distanzierten Blick über das Textpersonal wie über beliebige Passanten schweifen lassen. Die Erzählerin positioniert sich imaginär auf der gegenüberliegenden Straßenseite oder in der S-Bahn (beliebter Handlungsort der Hamburger Autorin) und beobachtet: eine humpelnde Frau, ein feindseliges Lächeln, lebenslustig blinkende Goldzähne.

Wenn aber, wie im letzten Text dieser Sammlung, der Innenansicht keine Außenbetrachtung vermittelnd gegenübergestellt wird, dann wird die „Eignung zum Wegdenken“ zelebriert. Das „Auskübeln des Kopfes“ führt zu einer Prosa, die das Brainstorming und seine rätselhaften Abgründe als einen Zufluchtsort des Denkens empfiehlt.

In einem geschlosseneren Text, der einen Elba-Aufenthalt behandelt, werden präzise Einzelbeobachtungen von Landschaft und Inselbewohnern von wahrnehmungsauflösenden Gedankenreihen begleitet, die das weltumschließende, landschaftliche Pendant ihrer selbst erkennen. Ein Überschuß an Himmel und Meer, und beide Naturweiten vereinen sich zu einer „gestauchten Unendlichkeit“.

Die literarischen Texte gruppieren sich um acht Essays zu Gemälden und Skulpturen. Während die Beobachtungen zu und symbolträchtigen Bildern, wie etwa Das weiße Pferd von Wouwerman, zu wenig überraschenden Deutungen führen, wirkt das Auge der Kronauer am durchdringendsten, wenn sie sich auf die dargestellten Menschen konzentriert. In einer Skulptur Christa Biederbicks, die Agatha Christie zum Vorbild hat, wird heimliche Stärke und gleichzeitig offensichtliche Schwäche des Alters erblickt. In einem Gemälde Matthias Grünewalds wird im weißhaarigen, durchstrahlten Christus-Gesicht ein skandalöses, weil unerbittliches Lächeln erkannt, das dem Gegenüber (der Betrachterin) hinübergesandt wird. Dieser Blick, dieses Lächeln lebte, so bekennt Brigitte Kronauer, noch lange in ihr fort. Stefan Pröhl

Lesung, heute, Heinrich-Heine-Buchhandlung, Schlüterstraße 1, 20 Uhr