„Untertauchen will ich nicht“

Radoslav Vasić ist in Deutschland geboren. Seine Eltern sind Roma. Jetzt soll er nach Serbien abgeschoben werden. Da kennt er niemanden  ■ Von Constanze von Bullion

Die Angst kommt in der Nacht. Radoslav Vasić liegt im Bett und hört den Aufzug. Ein leises Surren, dann dieses metallische Klappern, mit dem sich die automatische Lifttür öffnet. Schritte kommen näher. Radoslav steht auf, schleicht im Dunkeln zur Wohnungstür. Mit angehaltenem Atem linst der 20jährige durch den Spion. Falls die Polizei kommt, weiß er, was zu tun ist. Den Fluchtweg hat er vorbereitet.

Und dann sieht er endlich jemanden draußen: den Hausmeister, der im trüben Licht des Hausflurs zwischen Pappkartons herumkramt, sich einen Besen schnappt und verschwindet. Radoslav holt Luft und kriecht zurück ins Bett. Wenn sie heute nicht kommen, dann vielleicht morgen oder übermorgen: die Häscher der Berliner Ausländerbehörde. Radoslav Vasić, in Deutschland geborener Roma, soll nach Serbien abgeschoben werden.

Rund 135.000 Menschen wird die Bundesregierung ab 1. Dezember in die Republik Jugoslawien, also Serbien und Montenegro, zurückschicken. Die meisten sind Flüchtlinge, die in Deutschland kein Asyl bekommen haben. Beim großen Kehraus zum Ende des Balkankrieges prescht das Land Berlin vor. Ob unbegleitete Kinder, Kranke oder diskriminierte Minderheiten, die Devise heißt: raus, und zwar schnell. Auf die Liste geraten da auch Leute, die gar keine Flüchtlinge sind. Radoslav Vasić zum Beispiel.

Aber noch ist Vasić hier, hier in Berlin, in einer hellen Neubauwohnung im Bezirk Wedding. Er sitzt auf einem schwarzen Sofa aus Kunstleder, dreht den Musikclip im Fersehen leiser und steckt sich eine Marlboro an. Wer seine Odyssee durch europäische Länder und deutsche Ämter verstehen will, muß seine Familie kennen.

Acht Halbgeschwister, etliche Stiefmütter und Stiefväter hat Radoslav Vasić, dazu kommen ungezählte Tanten, Onkel, Nennonkel und Cousins. Die Roma-Familie aus Serbien ist heute über Deutschland und Österreich verteilt, ein paar Verwandte leben in Schweden und der Schweiz. Radoslav kennt sie fast alle, nur eine kannte er nicht: seine Mutter. Die war 17 als er geboren wurde. Das war 1976 in Rosenheim bei München. „Von der haben sie mir nichts erzählt. Ich weiß nur, daß ich irgendwann zu den Nachbarn in Pflege kam.“

Über seinen Vater redet Radoslav so wie einer, der sich eben erst freigestrampelt hat. „Als Bäcker oder auf dem Bau hat der gearbeitet. Verheiratet war er sowieso nicht mit meiner Mutter. Und zu Hause war er auch nie, immer mit dem Auto weg.“ Als seine Eltern sich trennten, war Radoslav drei. Er blieb beim Vater, die Mutter durfte ihn nicht mehr sehen. „Das ist ein Gesetz der Roma.“

Viel anzufangen wußte Radoslavs Vater mit dem Jungen allerdings nicht. Er brachte ihn zur Großmutter, „nach Jugo“. Osaonica heißt das Dorf, woher Familie Vasić herstammt. Ein kleines Kaff im Süden Serbiens, auf halber Strecke zwischen Belgrad und dem Kosovo. Radoslav erinnert sich an „eine Straße, rechts und links ein paar Häuser, da gibt es nicht einmal eine Kneipe“. Serben lebten damals kaum im Dorf. „Die Häuser haben Roma-Familien gehört, viele haben in Deutschland gearbeitet. Heute sind sie alle weg und Serben ziehen ein. Für die sind wir sowieso nur Zigeuner.“

Im Haus der Baba, der Großmutter, verbrachte Radoslav die nächsten Jahre. „Die Frau war schon ganz okay, irgendwie Mutter und Vater gleichzeitig.“ Die Baba hat auf dem Holzofen gekocht und mit der Hand die Wäsche gewaschen, hat romanes, die Sprache der Roma, mit ihm geredet und ihn zur Schule geschickt. Ländliche Idylle? Fehlanzeige. Die Baba war einfach arm. Eines Tages verbrannte sie sich den Zeh am Küchenherd. Irgendwann wurde ihr dann das Bein amputiert, wenig später war sie tot. Radoslav verfrachtete man wieder in ein Auto und karrte ihn zurück nach Deutschland. Das war 1989.

Bei seiner Tante aus Stuttgart hätte er damals wohnen können. „Die ist wirklich ganz in Ordnung.“ Doch der Vater lehnte ab. „Wegen der Ehre, der hatte Angst, daß alle über ihn lachen.“ Radoslav zog nach Berlin, zu Vater und Stiefmutter. „Die war immer stinkig, die beiden haben sich jeden Morgen gestritten wegen mir.“ Um teure oder billige Turnschuhe ging es da, um die Hose, die Radoslav anbehalten mußte, wenn er auf der Matratze im Wohnzimmer schlief. Und immer wieder ums Heiraten. Darauf hatte der 13jährige keine Lust, „dann ist doch das Leben hin“. Der Aufstand gegen die Familiensitten wurde hart abgestraft: „Mein Vater hat mich richtig doll geschlagen. Für den war ich nur der Dreck im Auge.“

Radoslav wollte nur noch weg, nahm Kontakt mit der Jugendhilfe auf und landete im Kinderheim Bethanien in Berlin-Charlottenburg. Sein Vater sagte sich in aller Form von ihm los, die Arbeiterwohlfahrt übernahm die Vormundschaft. Radoslav wurde Heimkind – und freute sich darüber: „Das war mein erstes Zuhause in Berlin.“

Daß die Weichen für seine Zukunft ganz woanders gestellt wurden, ahnte er damals nicht. Nach und nach fanden die Erzieher heraus, daß der Vater ihn weder rechtzeitig in der Schule noch bei der Ausländerbehörde angemeldet hatte. Abgelehnt wurden von da an sämtliche Anträge auf unbefristeten Aufenthalt. Von Familienzusammenführung wollten die Bürokraten nichts wissen, bis die Betreuer endlich Radoslavs Mutter in München aufstöberten.

Ein Wiedersehen der besonderen Art gab es dann 1993, als Radoslav Vasić seine Mutter zum erstenmal traf. Das Rendezvous war streng geheim. „Da standen drei Frauen vor der Tür. Eine, die in der Mitte, die kleinste, die hat mich angegrinst. Das war sie.“ Dann kam eine Flut von Geschenken, Einladungen, Flugtickets nach München. Daß sie sich „super verstehen“, erzählt Radoslav, „sie ist jung, wie ein Kumpel, wir quatschen locker, die Leute halten sie für meine Freundin.“

Immer wieder hat Radoslavs Mutter erklärt, daß sie für ihren Sohn sorgen will. Hat geschrieben, bestätigt, unterzeichnet. Das letzte Dokument aus dieser Serie kam im August. In ungelenker Handschrift steht da auf kariertem Papier, „daß ich meinen Sohn unterstützen werde. Nach langer Zeit bin ich froh, meinen Sohn wiedergefunden zu haben.“ Radoslav „würde gern nach München umziehen, was ich mir auch sehr wünsche“. Geholfen hat das nichts.

Um seinen Hauptschulabschluß nicht zu gefährden, blieb Radoslav vorerst in Berlin. Dann verschlampten die Behörden monatelang seine Akte. Irrtümlich stufte man ihn als Bürgerkriegsflüchtling ein: Statt einer Aufenthaltsgenehmigung bekam er nur eine vorübergehende Duldung. So wurde Radoslav 18, und die Polizei stand vor der Tür. Eine Abschiebung konnten die Jugendhelfer abbiegen – vorläufig.

Heute wohnt Radoslav Vasić in einer betreuten Wohngemeinschaft und kann sein Leben selbständig organisieren, „weil ich nie Scheiße gebaut habe“. Auf dem Papier aber ist er ein Niemand: keinen Paß, keinen Führerschein, keine Chance eine Wohnung zu mieten, eine Lehre anzufangen, Geld zu verdienen. So bleibt er von staatlicher Hilfe abhängig, obwohl sein Onkel ihn jederzeit bei seiner Baufirma einstellen würde. Letzte Woche wurde Vasićs Duldungsantrag endgültig abgelehnt und die Jugendhilfe gestrichen. Radoslav Vasić soll raus.

Fragt sich bloß, wohin. Seine Familie lebt in Deutschland. Im Dorf seiner Großmutter kennt er niemanden mehr. An Arbeit ist dort nicht zu denken. „Radoslav Vasić spricht kaum serbo-kroatisch, das ist eine unzumutbare Härte“, sagt Anwalt Ronald Reimann und verweist auf einen Beschluß des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Darin wird dringend davon abgeraten, Migrantenkinder in ein Land zu schicken, „in dem die Möglichkeit einer Eingliederung in ein fremdes soziales Umfeld praktisch nicht existent sind“.

Ob die Serben Radoslav überhaupt über die Grenze lassen, bezweifelt auch Percy McLean. Der Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Berlin weiß zwar vom Rückführungsabkommen, in dem sich die Serben kürzlich zur gestaffelten Aufnahme ihrer Staatsangehörigen verpflichteten. „Aber daß sich an der strikten Einreisesperre für Minderheiten sofort etwas ändert, glaube ich nicht.“

Rechtsanwalt Reimann will jetzt die Notbremse ziehen: Im Petitionsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses. Sollte die Parteienrunde Radoslavs Antrag ablehnen, wird er untertauchen, „obwohl ich genau weiß, daß ich dann erst recht keine Zukunft habe. Ich will viel lieber arbeiten und das alles sauber haben.“

Also wird Radoslav noch einmal die ganze, absurde Prozedur durchstehen müssen. Wird zum hundertsten Mal sein Leben erzählen. Wird im sorgfältig gebügelten Jeanshemd dasitzen und wird beteuern, was die Amtsherren hören wollen: daß er deutsch spricht und deutsch schreibt, deutsch denkt und deutsch träumt. Doch das ist nur ein Teil von Radoslavs Lebenswirklichkeit.

Klar, er will „nicht leben wie die auf dem Dorf“. Radoslav, den seine Freunde „Rade“ nennen, steht auf Soul und HipHop, bis vor kurzem hatte er eine deutsche Freundin. Die patriarchalischen Familienstrukturen der Roma findet er „total rückständig“. Gerade, was die Frauen angeht. „Mir ist mein eigener Kopf gewachsen. Ich kann die Hemden selber bügeln und habe keine Lust, meine Freundin an die Wand zu klatschen. Als Frau darfst du doch überhaupt nichts bei uns.“

Radoslav Vasić ist rausgewachsen aus seiner schwierigen Kinderstube. Verleugnen will er sie nicht. Und wenn er von „wir“ und „uns“ redet, dann sind noch immer die Roma gemeint. Sein bester Kumpel etwa, der heißt Klaus und ist „Zigeuner aus Serbien“. Kennengelernt haben die beiden sich, als es „Ärger um ein Mädchen“ gab. Klaus dachte, Radoslav sei Türke. Radoslav dachte, der andere sei Araber. Als Klaus sich dann ans Klavier setzte und ein paar Schnulzen vom Balkan klimperte, war alles klar. Der Mann ist Zigeuner, kapierte Radoslav. „Seitdem waren wir nicht mehr auseinanderzukriegen.“ Bis die Polizei plötzlich bei Klaus vor der Tür stand. Morgens um fünf. Jetzt ist er irgendwo in Serbien, Freundin und Kind sind in Deutschland geblieben. Radoslav will seinen Freund wiedersehen.

Zu Hause in Berlin.