Zuspruch vom Chef – für alle und jeden

Selbst Helmut Kohl, der große Übervater, kann den wachsenden Unmut in seiner Partei nicht mehr auffangen. Die CDU sucht sich ein Ventil: Feiert sie heute Fraktionschef Wolfgang Schäuble?  ■ Aus Hannover Dieter Rulff

Nichts war dem Zufall überlassen worden bei dem Bemühen, den Parteivorsitzenden im rechten Bild erscheinen zu lassen. Bereits vor Tagen war in Hannovers Eilenriedehalle gegenüber der Empore des Parteitagspräsidiums eine Pressetribüne errichtet worden, von der aus die Kameras „schwingungsfrei“ Helmut Kohl einfangen konnten, als dieser gestern morgen ans Rednerpult ging, um den Bundesparteitag der CDU zu eröffnen. Diese Architektur bürgte nicht nur für das richtige Hintergrundbild, sondern es sorgte zudem für eine Aufnahme, die frei blieb von den Schwingungen, die sich unterhalb des Empfangsbereichs der Kameras im Saal breitmachten, als der Vorsitzende das Wort ergriff.

Der Redner selbst hatte diese Stimmungen der Basis bereits in den Tagen zuvor erlebt, er konnte sie förmlich spüren, als er am Abend zuvor beim Empfang der 1.000 Journalisten im benachbarten Kuppelsaal eintraf. Dieweil er und Frau Hannelore in der Saalmitte am „Kanzlertisch“ für die Kollegen und Kolleginnen von ARD und ZDF die erste Reihe bildeten, raunte es in den Rängen über das schlechte Erscheinungsbild der Koalition in der letzten Woche. Und als die Delegierten am Morgen danach das Frühstück in ihren Hotels einnahmen, wurden sie von ihrer Leibzeitung mit „anhaltenden Turbulenzen in der Koalition“ konfrontiert.

Unmut über die Koalition kann sich an deren Führung alleine zwar nicht ausmachen, sie kann die Führung aber auch nicht ausnehmen. Helmut Kohl, der eigentlich erwarten konnte und wohl auch erwartet hat, als Kanzler mit der längsten Regierungzeit gefeiert zu werden, war genötigt, diesem Unmut Rechnung zu tragen. Er mußte in seiner Rede der Erwartung an seine Person gerecht werden, die um so größer ist, je schlechter die Riege hinter ihm ihr Geschäft betreibt.

Kohl zeigte Verständnis. Denn „der Bürger erwartet eine verläßliche, eine ehrliche Politik“. Der eine oder andere habe gar „Mitschuld“ an den Verhältnissen. Doch gelte es nun, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Nur welche?

Kohl gibt, nicht ohne unfreiwillige Ironie, die Richtung vor. In „dieser Zeit, wo die Dinge schwierig sind“, sei die These „Weiter so“ eine These von vorgestern. Jetzt gelte es, die Zukunft zu sichern. „Wir werden lernen müssen, daß die Globalisierung zwingend ist und können nicht zulassen, daß immer mehr Arbeitsplätze zu hohen Arbeitskosten zum Opfer fallen. Aber Kohl gleicht auch aus. Er habe kein Verständnis für jene, „die meinen, den Sozialstaat auszuhöhlen“. Die CDU sei die Partei der sozialen Marktwirtschaft und nicht die Partei der Marktwirtschaft.

Damit hat jeder der streitenden Parteiflügel seinen Zuspruch erhalten, doch eine Position in den anstehenden Auseinandersetzungen hat der Kanzler damit noch nicht bezogen. Die zu finden, überläßt er der heute beginnenden Debatte um die Reform der Einkommenssteuer. Der Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble will darin auch die Besteuerung der Lohnersatzleistungen einbeziehen. Die Sozialpolitiker um Norbert Blüm und Heiner Geissler haben schon Widerstand angemeldet. Der entsprechende Antrag wurde daraufhin abgemildet. Er legt die Reform nur noch nahe. Wie nahe, das ist die Frage des Parteitages, auf die Kohl keine Antwort geben wollte. In Vorahnung beschwor er vielmehr die Delegierten, heute nicht auch noch zur Rentenreform „die Schlacht zu eröffnen“.

Ein Parteivorsitzender, der um so unersetzlicher scheint, je größer die Unübersichtlichkeit der von ihm mitangestoßenen Reformwerke ist, tut gut daran, auch in seinem Minenspiel keine Abgehobenheit erkennen zu lassen. Ernst tritt Kohl nach eindreiviertel Stunden Redezeit ab. So ernst, daß man meinen könnte, er habe den spärlichen Applaus geahnt, mit dem seine Rede quittiert werden würde. Auch wenn die Delegierten ihm vier Stunden später bei seiner Wiederwahl mit 95 Prozent ein gutes Ergebnis bescherten, in Feierstimmung haben sie ihn nicht versetzt. Das bekam ausgerechnet Norbert Blüm zu spüren, der eine kurze Eloge auf die lange Amtszeit des Kanzlers hielt. Ein knapper Händedruck von Kohl zum Dank, mehr nicht.

Ein Parteitag, dessen Unmut vom Vorsitzenden nicht aufgefangen wird, sucht ein Ventil. Das findet er womöglich in der heutigen Rede des Bonner Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble, dem er dann mehr applaudiert, als es dessen Ausführungen in der Sache rechtfertigen würden. So kann man über das Lob des einen die anderen tadeln.