Die Bündnisgrünen feiern Rezzo Schlauch, als hätte er die zweite Runde der Oberbürgermeisterwahlen in Stuttgart schon gewonnen. Mit 30 Prozent der Stimmen landete Schlauch am Sonntag nur fünf Prozent hinter dem Kandidaten der CDU. Doch was sind schon fünf Prozent in der Hauptstadt der Schwarzen, geben sich die Grünen euphorisch. Aus Stuttgart Philipp Maußhardt

Am Hinterrad des Vordermanns

„... und als die sieben Schwaben sich mit ihrem Spieß dem Busch näherten, da sprang ein Hase heraus und entfloh. „Habt ihr den Drachen gesehen?“ fragte der Spiegelschwab?“

Es war, wie wenn ein Dampfkochtopf sein Überdruckventil in Gang setzt: Rezzo Schlauch fiel am Sonntag abend einfach jedem um den Hals, den er erwischen konnte – und es waren viele. Bei Tangoklängen und Sekt feierten die Bündnisgrünen das Abschneiden bei den Stuttgarter Oberbürgermeisterwahlen so euphorisch, als hätten sie bereits gewonnen. Dabei lag Schlauch (49) immerhin noch fünf Prozent hinter dem Bewerber der CDU. Doch was sind fünf Prozent in der Hauptstadt der Schwarzen? Diese Sensation, in einer deutschen Großstadt den zweiten Platz erobert zu haben, war denn auch der Grund für die überschäumende Freude. „Jetzt pack' ich ihn“, rief Schlauch und wedelte mit dem Zeigefinger durch die Kneipenluft, „wenn ihr mir alle helft.“

Tatsächlich hatte bei den Bündnisgrünen kaum jemand damit gerechnet, daß Schlauch dem CDU- Favoriten Wolfgang Schuster im ersten Wahlgang so dicht auf den Fersen folgen würde. „Jeder Radrennfahrer weiß“, jubilierte noch in der Wahlnacht der grüne Landesvorsitzende Wilfried Hermann, „daß die Position am Hinterrad des Vordermannes die beste Ausgangssituation für den Sieg ist.“

Und dort radelt nun Rezzo Schlauch dem 10. November entgegen. Weil bei Oberbürgermeisterwahlen vor allem die Persönlichkeit der Bewerber entscheidet, gelang Schlauch ein massiver Einbruch ins konservative bürgerliche Lager. So wählte mancher Schwabe wohl zum erstenmal in seinem Leben grün, ohne es eigentlich zu wollen. Denn Schlauchs Stärke war die Schwäche seiner Gegner; beide, Wolfgang Schuster von der CDU und Rainer Brechtken von der SPD, bleiben gegen seine impulsive Art eher blaß und grau. Und so holte der grüne Rechtsanwalt selbst in Vororten ein respektables Ergebnis, wo früher noch ein Besenstiel gewonnen hätte, wäre er nur von der CDU aufgestellt worden.

Wäre Stuttgart nur Stuttgart, läge Schlauch sogar auf Platz eins. Doch die Stadt „zwischen Wald und Reben“ besteht aus 17 Dörfern und einer Stadt. Während Schlauch unten im Kessel in manchen Wahllokalen über 40 Prozent der Stimmen einheimste, blieb die Landbevölkerung vorsichtiger. In Vororten, die noch nach Kuhmist riechen und Zazenhausen oder Dürrlewang heißen, ißt man eben lieber, was man kennt.

Während Schlauch den Sonntag abend glücklich in den Armen seiner Wahlhelfer verbrachte, versammelten sich die geschlagenen SPD-Genossen zu ihrer üblichen Trauerfeier. Wieder einmal mußten sie analysieren, warum ihr Kandidat Rainer Brechtken, der doch so integer und fleißig und kompetent ist, beim Wähler nicht ankam. 22 Prozent müssen erst einmal verkraftet werden, und so klang es fast ein wenig trotzig, als der Landtagsabgeordnete Brechtken, heftig mit dem Kopf nickend, verkündete, sein Ergebnis sei eine prima Voraussetzung für den zweiten Wahlgang.

Diese Entscheidung führte noch in der Wahlnacht zu heftigen Kontroversen bei den Sozialdemokraten. Vor allem der Fraktionschef im Landtag, Ulrich Maurer, drängte seinen Parteifreund zum Wiederantritt in drei Wochen. Maurer glaubt, ein Verzicht der SPD hätte noch katastrophalere Folgen als ein peinliches Ergebnis im zweiten Wahlgang. „Wenn wir aufgeben, brauchen wir in Stuttgart in den nächsten Jahren gar nicht mehr anzutreten“, sagt Maurer, und die Mehrheit in der baden- württembergischen SPD-Führung stimmt ihm zu. Daß sie mit dieser Taktik dem CDU-Bewerber Schuster, Ziehsohn des scheidenden OB Rommel, den Weg aufs Rathaus bahnen, ist ihnen, so scheint's, egal.

Die Verwirrung in der SPD ist zudem noch gewachsen, seit der SPD-Oberbürgermeister der Stadt Pforzheim, Joachim Becker, für heute eine Erklärung ankündigte, ob er als Quereinsteiger zum zweiten Wahlgang antritt. Das baden- württembergische Wahlrecht (siehe Kasten) läßt dies zu. Bereits abgewunken hat derweil die im ersten Wahlgang abgeschlagene FDP-Kandidatin. Wie zu erwarten war, empfehlen die mit der CDU verbandelten Freidemokraten die Wahl Schusters im zweiten Wahlgang.

Das eigentlich überraschendste Ergebnis nach einem zwischen Grün und Schwarz polarisierten Wahlkampf ist das Desinteresse der Stuttgarter Wähler. Nur knapp über die Hälfte aller Wahlberechtigten gingen überhaupt wählen. Vor allem die 36.000 erstmals zu einer Kommunalwahl zugelassenen EU-Bürger machten von ihrem Recht kaum Gebrauch. Da hat es offensichtlich nicht einmal etwas genutzt, daß die SPD bei all den italienischen Stuttgartern ausgerechnet den Bürgermeister von Neapel um Wahlkampfhilfe gebeten hatte.

Was die Wähler auch nicht wollten: die vielen Jux- und Neurosekandidaten; insgesamt traten 38 Bewerber an. Sie verzeichneten nur marginale Ergebnisse. Einzig der als Fälscher der Hitler-Tagebücher in die Kriminalgeschichte eingegangene Stutgarter Konrad Kujau erhielt immerhin 902 Stimmen – garantiert echt.

Noch in der Wahlnacht brachte die CDU ihre Bataillone in Stellung: Sie will nun mit allen Mitteln verhindern, daß ein Grüner Chef im Rathaus wird. Hardliner Gerhard Mayer-Vorfelder kündigte einen massiven Wahlkampf für die nächsten drei Wochen an und wird dafür auch die Unterstützung der CDU-nahen Industrie- und Handelskammer bekommen. Er spricht von „Katastrophe“ und zeichnet ein Untergangsszenario im Fall der Wahl von Rezzo Schlauch. Auf deutliche Distanz zu Schlauch ging am Montag auch die bürgerliche Stuttgarter Zeitung, die sich bislang zurückgehalten hatte und den grünen Kandidaten Schlauch allenfalls in Karikaturen wiederholt als „Fuzzi“ bezeichnete. Nun wird Schuster in Siegerpose dargestellt, der auch im zweiten Wahlgang „gute Chancen“ habe. Wahrscheinlich hat die Zeitung sogar recht. Denn der Mut der Schwaben ist schließlich sprichwörtlich: Es reicht ihnen, einen Drachen zu jagen und einen Hasen zu finden.