Schriften zu Zeitschriften
: Wildes Wünschen

■ Die neue „Lettre“ knöpft sich Nelson Mandela vor, „The Face“ Tony Blair

Nicht weniger als fünf Spielfilme sind derzeit über Nelson Mandela in Vorbereitung. Bei den meisten wird es sich um Heiligenlegenden handeln: Sohn eines unbedeutenden Häuptlings, aufgewachsen in einer Lehmhütte, erhält auf einer Missionsschule erste Unterweisung in Kulturtechniken der Weißen. Man beschließt, ihn zum Stammesanwalt ausbilden zu lassen; aber Mandela flieht das gemachte Nest, um nach Johannesburg zu ziehen, wo er ein Gentleman und beschlagener Advokat wird.

Er wird außerdem Boxer, führt die erste Kampagne an und geht in den 60er Jahren in den Untergrund – um schließlich im Gefängnis auf Robben Island seine Jugend verstreichen zu lassen, weil er alle „Angebote“ des Regimes, ihn unter bestimmten Bedingungen freizusetzen, ausschlägt. Als alter Mann schließlich tritt er 1990 aus den Toren der Anstalt, um 1994 zu Tränen und Tänzen der ganzen Menschheit der erste demokratisch gewählte Präsident Südafrikas zu werden.

„Der Tag würde kommen“, schreibt der südafrikanische Journalist Rian Malan in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Lettre, „an dem irgendein arroganter Journalist Mandelas Biographie nach Ironien und Widersprüchen durchsuchen würde.“ Schweren Herzens hat Malan sich dann darangemacht, selbst den Schritt zu tun; Lettre gab seinen Ergebnissen den Untertitel „Ketzerische Betrachtungen eines weißen Südafrikaners“. Woher kamen die umgerechnet fünfzehn Millionen Mark, von denen in Mandelas Scheidungsprozeß die Rede war? Hatte Mandela nicht versucht, den Zulu-Führer Buthelezi „hinwegzufegen“, der den ANC heute im Senat attackiert?

Malan weiß es nicht genau, aber man wird ja wohl mal fragen dürfen, und vor diesem Hintergrund klingt es dann auch gleich ganz anders, wenn man schreibt: „Man hat mir erzählt, daß er nur selten im Kabinett den Vorsitz führt und sich höchstens blicken läßt, um Krisen beizulegen oder festgefahrene Situationen zu meistern. Ansonsten liest er Zeitung, spricht mit seinen Enkeln, flirtet hemmungslos mit Journalistinnen, tritt für das Ideal der Aussöhnung zwischen den Rassen ein und stattet den greisen Figuren des alten Regimes Höflichkeitsbesuche ab. Solch charmante Gesten helfen zwar kaum, die Probleme von Armut, Verbrechen und wachsendem Chaos zu lösen, aber egal, sie halten uns zusammen, stellen uns mehr oder weniger ruhig.“

In einer freistehend gehaltenen Rede zum Thema „Politik als Beruf“, die Max Weber ein Jahr nach der Novemberrevolution vor dem Freistudentischen Bund hielt, kommt er bekanntermaßen resigniert zu dem Schluß, daß uns wahrscheinlich auf lange Sicht der Hader zwischen „Gesinnungsethikern“ auf der einen und „Verantwortungsethikern“ auf der anderen Seite erhalten bleiben wird. Wäre Mandela der Gesinnungsethiker, den sein Biograph Malan sich wünscht, dann hätte er Strenge statt Charme, würde toben statt flirten und Blut statt Champagner fließen lassen.

Daß man sich in dieser Angelegenheit auch auf religiös vermintem Gelände bewegt, hatte Weber damals geahnt: „Das uralte Problem der Theodizee ist ja die Frage: Wie kommt es, daß eine Macht, die als zugleich allmächtig und gütig hingestellt wird, eine derartig irrationale Welt des unverdienten Leidens, des ungestraften Unrechts und der unverbesserlichen Dummheit hat erschaffen können?“ Es ist wahr, daß die Inkatha-Anhänger sich mit ANC-Jugendlichen blutige Gefechte liefern, daß es Arbeitslose, Antisemiten und korrupte Beamte gibt und geben wird. Aber um sich nicht davon kontaminieren zu lassen, hätten Mandela auf Robben Island und die Linke machtlos bleiben müssen.

Es scheint, daß gerade öffentlich zur Schau getragene Gelassenheit, Verhandlungsgeschick oder gar Frohsinn als Teil eines politischen Habitus verübelt werden, und zwar besonders auf seiten der Linken. Der Sandinistenführer Daniel Ortega bekommt das dieser Tage (solange noch nicht klar ist, daß er die Wahlen in Nicaragua verloren hat) ebenso zu spüren wie Bill Clinton (gerade weil er wohl siegen wird) oder sein europäischer Adept Tony Blair, dem das Popmagazin The Face beredt zur Last legt, er robbe sich mit geleckten Gitarrenriffs an die Jugend heran – und meine es gar nicht so!

Protestbewegungen, so schreibt Niklas Luhmann, geht es keineswegs darum, selbst Hand anzulegen. „Proteste sind Kommunikationen, denen es um Ausdruck von Unzufriedenheit, um Darstellung von Verletzungen und Benachteiligungen, nicht selten auch um wildes Wünschen geht.“ Ehrliche, saubere Gitarrenriffs können eben nur aus Lehmhütten kommen. Man spielt sie mit gesenktem Haupt, den Nacken von einer Feindespistole gekitzelt. Mariam Niroumand