Exodus der Dogmen

■ Bremer Lehrhaus zeigt sich in neuen Räumen der Öffentlichkeit / Religion, Musik und Literatur im Diskurs

Liebevoll streicht Hanns Kessler über die antiken Kirchenbänke, die er vor dem Verfall gerettet hat. Jetzt stehen sie auf Holzpodesten an den Längsseiten des Versammlungsraumes im Bremer Lehrhaus und verleihen dem hellen Ort mit den schlichten Holzmöbeln etwas Sakrales. „Ich verbinde damit die Vorstellung von alten Lehrhäusern in Israel, wo die Leute auch auf Podesten sitzend lebhaft miteinander diskutierten“, erzählt der katholische Theologe und ehrenamtliche Leiter des Lehrhauses. Am Sonntag, dem 25. Oktober ab 17 Uhr will sich das „Lehrhaus in Bremen“ in seinem neuen Domizil in der Buchtstraße 11 präsentieren. Die „projektgruppe neue musik“ und die Stadtgemeinde Johannes XXIII, die ebenfalls dort untergekommen sind, werden die Eröffnung musikalisch umrahmen. Der Begriff „Lehrhaus“ steht für eine Institution, die in der jüdischen Tradition beheimatet ist. Lehrhäuser sind in Zeiten der Verfolgung und der drohenden Vernichtung der jüdischen Religion entstanden: 587 v. Chr. wurde der Jerusalemer Tempel zerstört und das Volk Israel in die babylonische Verbannung geschickt. Gottesdienst, Theologie und Lehre waren in der herkömmlichen Form nicht mehr weiterzuführen. Also schaffte man sich Lehrhäuser, in denen über die biblische Tradition und ihre Bedeutung für das Alltagsleben nachgedacht, geredet und gestritten wurde. Die Holländer übernahmen nach dem 2. Weltkrieg die Idee und gründeten christliche Lehrhäuser. „Diese Unbefangenheit geht uns hier in Deutschland ab. Wir wollen das Jüdische überhaupt nicht vereinnahmen, aber wir haben für das, was wir hier machen wollen, keinen besseren Namen finden können“, sagt Hanns Kessler. 1988 wurde in Bremen die Lehrhaus-Idee geboren: Ein Kreis von katholischen und evangelischen TheologInnen, Natur- und MusikwissenschaftlerInnen wollte sich mit den herkömmlichen kirchlichen Formen der Bibelbetrachtung nicht mehr zufrieden geben. Sie gründeten ein unabhängiges Lehrhaus, dessen 30 Mitglieder mit einem Etat von 12.000 Mark das Jahresprogramm selbst finanzieren. Im Zentrum stehen Fragen nach der biblischen Tradition, ihren Wurzeln und ihre Auswirkung auf Musik, Kunst, Politik, Geschichte und Wissenschaft. Demnächst geht es um das Buch Hiob und seine Bezüge zur Musik (Rezeption des Buches Hiob in der Renaissance), zum Talmud und zum Schriftsteller Walter Benjamin. Angestoßen werden soll ein durchaus konträrer Diskurs über wesentliche Fragen der Religion. Diesen (jüdischen) Grundsatz wolle man im Christentum beleben, denn die christliche Tradition der Glaubensauslegung lasse zu wenig Raum für abweichende Meinungen und Grenzüberscheitungen, für Fremdes und Befremdliches, so Kessler. „Zu uns kommen, neben Kirchenleuten, auch die, die den Fuß nie wieder über eine Kirchenschwelle setzen wollen. Trotzdem haben sie ihre Anfragen an Religion oder sind philosophisch an Theologie interessiert“, berichtet Kessler. Der frühere Gemeindepastor und jetzige Gefängnisseelsorger hat Verständnis für Zweifler und Kirchenkritiker: „In unseren Gottesdiensten ist es selbstverständlich, daß Gott angerufen wird, dabei ist man sich nicht immer sicher, ob er überhaupt anwesend ist.“ Viele hätten die Nase voll von der Amtskirche und ihren Dogmen. „Trotzdem, das was sich an Traditionen, Menschen- und Lebensbildern in der Kirche angesammelt hat, das können wir doch nicht allein den Prälaten überlassen. Wir wollen uns das im Lehrhaus eigenständig wieder aneignen“, so der Querdenker. Das Besondere an der Konstruktion sei, daß keine teuren ReferentInnen eingeflogen werden. „Schließlich gibt es in dieser Stadt genügend Leute, die uns was zu sagen haben.“ Jedes Jahr beschließt die Lehrhaus-Versammlung ein Programm. ReferentInnen sind entweder die Mitglieder selbst, oder es gesellen sich Neue dazu. Benjamin und Renaissance-Musik – sind das nicht recht intellektuelle Zugänge, für ein elitäres Publikum? „Ach wissen Sie“, seufzt Kessler, „das ist ein ungelöstes Problem. Wenn man neue Wege gehen will, wird dieser Vorwurf laut. Ich lege keinen Wert auf akademische Veranstaltungen, auch wenn das Programm eine elitäre Wirkung haben mag.“

Beate Hoffmann