Die Fichten, der Himmel, das Meer

Stadt im Film (III). Tokio: Wenders Schwärmereien und Jasuijiro Ozus Liebe  ■ Von Stephan Wackwitz

Der berühmteste Tokio-Film ist zugleich der dümmste: „Sans Soleil“ von Chris Marker. Dieses in Programmkinos immer wieder gern bestaunte Machwerk ist ein Sammelsurium vieler Klischees über die Nichtzentralität, Nichtlinearität, das angeblich irgendwie Derrida-mäßige dieser Stadt, die der Europäer halt so im Kopf hat.

Die Lieblingsfilme des Regisseurs Harun Farocki über Tokio wiederum sind die von Suzuki Seijun. Es hat außer Harun Farocki zwar niemand, den ich kenne, je einen gesehen, aber es soll sich um Gangsterfilme handeln, die sich durch allerlei avantgardistische und zugleich humorvolle Techniken des Filmschnitts auszeichnen. Farocki erzählte während eines Tokioaufenthalts immer wieder von einer Suzuki-Szene, in der ein Revolver in die Luft fliegt, dann eben ein Schnitt erfolgt, die Geschichte in anderen Richtungen weitergeht, schließlich („Schnitt!“) der Revolver wieder runterkommt und der alte Handlungsstrang wieder aufgenommen wird. Na ja.

„Notizen über Kleider und Städte“ von Wim Wenders dagegen hat zumindest einen gewissen dokumentarischen Wert für Freunde der Hosen, Hemden und Jacken Yamamoto Johjis, obwohl ich die Yamamoto-Schwärmerei an sich als kulturalistische Verirrung verurteile und in diesem Zusammenhang auch mal sagen muß, daß ich bei Yamamoto seinerzeit – für ein Saugeld – ein paar nicht gefütterte Handschuhe gekauft habe, die man gar nicht anziehen konnte, weil man vom Tragen kohlrabenschwarze Hände bekam. Wim Wenders Tokio-Filme könnte man demnach als die Yamamoto- Handschuhe der Tokio-Filmgeschichte bezeichnen. Man muß das andererseits aber nicht tun.

Es gibt allerdings auch Tokio- Filme, an denen partout nichts auszusetzen ist. Es sind die von Jasuijiro Ozu, der in einem langen, arbeitsreichen Leben immerfort nur denselben Film über Tokio gedreht hat. In den ersten Versionen ist die Stadt noch halb zerstört, die letzten sind in Farbe und beginnen mit Aufnahmen blühender Kirschbäume vor dem Fernsehturm. Ozus Filme sind langweilig, wenn man sie nicht gewöhnt ist; aber schon der erste, den ich – im Frankfurter Filmmuseum – gesehen habe, hat mich nicht aufgeregt und unruhig gemacht, wie langweilige Filme sonst, sondern wunderbar beruhigt. Ein Nachmittag im No- Theater wirkt ganz ähnlich.

Nach dem dritten Ozu-Film beginnt man, ein Gefühl für die exquisiten Nuancen der Schauspielkunst zu entwickeln, für die Poesie der sparsamen Landschafts- und Stadtlandschaftsaufnahmen. Ozu hat fast sein ganzes Arbeitsleben hindurch dieselbe Crew verwendet, sehr oft dieselben Schauspieler, bei Innenaufnahmen immer dieselbe – extrem niedrige – Kameraposition. Viele der Filme haben Jahreszeiten als Titel.

Es geht in ihnen immer darum, was die Japaner vor allem zu interessieren scheint: die Familie. Wie schwierig, fast unmöglich es ist, eine Ehe zu führen, ein Kind zu erziehen oder mit den alten Eltern auszukommen, wird sichtbar an den scheinbar nebensächlichen Katastrophen. Dann zeigt Ozu lakonisch eine Fichte über dem Bahnhof von Kita-Kamakura, das Meer, den Himmel. In einer berühmten Einstellung schält ein verlassener alter Mann einen Apfel.

Ozu-Filme muß man in Serie sehen, mindestens eine Woche lang, jeden Tag einen. Von Tokio, gar vom heutigen Tokio sieht man nicht sehr viel. Proust hat darauf aufmerksam gemacht, daß man sich an diejenigen Tage der Kindheit am intensivsten erinnert, die man mit der Nase in einem Buch verbracht und scheinbar gar nichts gesehen hat. Durch Ozu-Filme lernt man Tokio ähnlich kennen.

Im Herbst 1993 gab es in einem der riesigen Kaufhaus-Kulturzentren von Shibuya eine Gesamtretrospektive. Jeder Film war gesteckt voll. Ich ging jeden Tag hin. Viele Leute weinten, als das Licht wieder anging, und auch mir war zum Heulen: die Japaner wahrscheinlich deshalb, weil es Ozus Japan nicht mehr zu geben scheint, und ich, weil ich hier bald weg mußte. Seither habe ich nie mehr einen Ozu-Film gesehen, und ich glaube, ich würde „Banshun“ etwa gar nicht bis zum Ende aushalten. Das Heimweh nach Tokio ist so schon immer noch schlimm genug.