Soldaten kurz vor dem Verhungern

■ Die Situation in den russischen Streitkräften ist katastrophal. Generäle stellen Ultimatum für Soldnachzahlung und drohen mit Protesten. Eine Machtprobe zwischen Armee und Kreml bahnt sich an

Moskau (AP) – In Rußland steht eine Machtprobe zwischen der Kreml-Führung und Teilen der Armee bevor. In einem offenen Brief an Verteidigungsminister Igor Rodionow hatten unzufriedene Offiziere aus dem Generalstab Proteste angedroht, falls der seit August ausstehende Sold nicht bis zum 25. Oktober nachgezahlt würde. Präsident Boris Jelzin reagierte prompt. Generalstabschef Michail Kolesnikow, nach dem Rauswurf Pawel Gratschows selbst einige Wochen kommissarisch Verteidigungsminister, wurde gefeuert. Davor mußte bereits der Kommandeur der Luftlandetruppen gehen, Jewgeni Podkolsin.

Die Situation entschärft das keineswegs. Finanzminister Alexander Liwschiz geht davon aus, daß die vollständige Nachzahlung erst bis zum ersten Quartal des kommenden Jahres erfolgen kann. Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin will mit einer Sondersteuer zur Finanzierung der hochverschuldeten Streitkräfte die Löcher stopfen. Deren Umsetzung ist jedoch mehr als fraglich.

Statt dessen häufen sich die dramatischen Appelle. Laut dem leitenden Militärstaatsanwalt Walentin Panischew leben viele Soldaten und ihre Familien „am Rande des Verhungerns“. In zahlreichen Kasernen gebe es nicht einmal mehr eiserne Rationen. Die Wochenzeitung Nowaja Gaseta rechnete vor, daß die Armee inzwischen bereits die Hälfte der für den Kriegsfall angelegten Nahrungsreserven aufgebraucht habe. Die chronische Unterversorgung der Streitkräfte zeigt sich unter anderem darin, daß pro Mann und Tag umgerechnet nur knapp zwei Dollar für die Verpflegung zur Verfügung stehen.

Die Armee kann kommunale Dienstleistungen wie Strom kaum noch bezahlen. Mehrfach wurden die Streitkräfte von der Stromversorgung abgeschnitten. Angesichts sich häufender Zwischenfälle zog die Regierung in Moskau die Notbremse. Ministerpräsident Tschernomyrdin unterschrieb Ende September 1995 ein Dekret, das den Energieunternehmen des Landes ausdrücklich untersagt, den Strom für Militärobjekte abzuschalten. Viele Unternehmen halten sich nicht daran.

Die soziale Komponente ist die eine Seite. Die Militärs, denen zu Sowjetzeiten die Rolle eines Bittstellers völlig unbekannt war, beklagen eine hoffnungslose Veralterung der Waffenbestände. Falls die Regierung nicht mehr Geld zum Kauf moderner Ausrüstung bereitstelle, können nach Analysen des Verteidigungsministeriums die Streitkräfte am Ende des Jahrzehnts ihren Auftrag nicht mehr erfüllen. In einem internen Bericht wird unterstrichen, daß nur noch 22 Prozent der Waffenbestände modernen Anforderungen entsprächen. Im Jahr 2000 würden es bei der vorhersehbaren Entwicklung des Verteidigungsetats nur noch 8,5 Prozent sein.

Nach Angaben der Zeitung Moskowskije Nowosti hätte die Armee 1994 für die Beschaffung militärischer Ausrüstung 2,3 Billionen Rubel benötigt. Vorgesehen waren 1,6 Billionen Rubel, und tatsächlich gezahlt wurden 504 Milliarden Rubel. Für 1996 wird davon ausgegangen, daß 27 Prozent der tatsächlich benötigten Mittel zur Verfügung stehen.

Daß Jelzin genau einen Monat vor der ersten Runde der Präsidentenwahl 1996 die Abschaffung der Wehrpflicht und die Umwandlung der russischen Streitkräfte bis zum Jahr 2000 in eine Berufsarmee ankündigte, war vor allem ein Propagandacoup mit der Zielgruppe Jungwähler und Soldatenmütter. Hinter dem Projekt Berufsarmee stehen mehrere Fragezeichen.

So ist unsicher, ob sich genügend qualifzierte Anwärter für den Dienst melden werden. Zu schlecht ist das Ansehen der Armee in der Öffentlichkeit. Verteidigungsminister Rodionow geht davon aus, daß der Umbau zu einer Berufsarmee frühestens bis zum Jahr 2005 vollzogen werden kann. Offen ist vor allem die finanzielle Frage. Nach Einschätzung von Experten käme eine angemessen bezahlte Berufsarmee den Staat fast siebenmal teurer als Streitkräfte, in denen auch Wehrpflichtige dienen.