Die Zeit der Grasmäntelchen ist vorbei

■ Die 10. AVE-Modemesse für Jungdesigner in der Arena: Sackhalter und Hängekleidchen, die nicht von halbverhungerten Menschen vorgetragen werden

Bei der ersten AVE-Modemesse im März 1988, die übrigens nur 4 Mark Eintritt kostete, versuchten sich rund 700 Zuschauer in eine Fabriketage in die Osloer Straße zu quetschen. Heute sind sogar rund 5.000 Zuschauer bereit, 25 Mark zu zahlen, um sich die neuesten Design-Kreaktionen der zur Modestadt erkorenen Hauptstadt anzuschauen. Doch nicht nur das Publikum und der proportional zum Publikumsandrang gestiegene Eintrittspreis wurde größer, sondern auch die Anzahl der teilnehmenden Designer. Von nur 15 Modeschöpfern am Anfang kam man in diesem Jahr auf 22 Laufstegpräsentationen und rund 40 Verkaufsstände. Wie wichtig die AVE-Modemesse für die Jungdesigner von heute sein kann, beweisen die Karriereschübe einzelner Labels, die von der ersten Stunde an dabei waren. Das Designer- Duo Next G.U.R.U. Now produziert längst in großer Stückzahl und liefert nach Tokio und New York. Auch die Thatcher's, die letztes Jahr noch im Wettbewerb standen, haben zwischenzeitlich die angesehene Pariser Off-Messe „Who's Next“ gewonnen und folglich keine Zeit mehr, sich der AVE zu stellen. Andererseits ereilte die Jungs vom hoffnungsvollen und wohl innovativsten Teilnehmer- Duo des letzten Jahres IM Waircraft der plötzliche Tod durch Auflösung. „Die AVE wird immer weniger originell“, so unkt es schon seit Jahren aus den verschiedensten Ecken. Mal ehrlich: Nicht nur für die geschätzten G.U.R.U.s ist die Zeit der Kunstgrasmäntelchen endgültig vorbei. Die meisten Designer wollen ihre Sachen getragen sehen – und das bestimmt nicht nur aus ökonomischen Gründen.

Der einzige Designer, der wohl noch nahtlos an die Grasmäntelchen-Tradition anknüpft und dabei wirklich noch jenseits, nämlich „off“ aller gängigen Modevorstellungen steht, ist sicherlich der Münchener Hermann Hiller mit seinen Alltagskleidern aus Gebrauchsgegenständen, die man aus dem Haushalt kennt: Aus Einweg- und Gummihandschuhen fabrizierte er lustige Hängekleidchen. Ebenso gut geeignet sind aneinandergenähte Metermaße, Postkarten und Fähnchen. Seit Jahren schon arbeitet Hiller mit diesen sonderbaren Grundmaterialien. Man hat den Eindruck, ihm geriete alles mögliche unter die Nähmaschine – nur kein gewöhnlicher Stoff.

Äußerst würdevoll und dabei kein bißchen grotesk wurde Pfefferkorns Kernstück, ein superknappes Minikleid, das sich aus alten Football-Shirts zusammensetzt, präsentiert. Bilder wie diese machen einfach Spaß. Ebenfalls beachtlich war die Arbeit von Katja Deutsch, die sich hinter dem Herrenlabel Gentlemania verbirgt. Laut eigener Aussage versuchte sie „den Crossover von klassisch edler Herrenmode und kleinen Streetwear-Exzessen“. Besonders prächtig fiel dabei das Brautkleid für den androgynen Mann aus: ein weißer Schleier reicht bis zum Boden. Darunter ist sein Träger so gut wie nackt. Bloß das Gemächt steckt in einem aus tausend Rüschen gearbeiteten Sackhalter – wenn das nicht innovativ ist.

Die metallisch glänzenden Mäntel und Miniröcke aus Lack- und Schaumstoff des Duos Witte/ Vogel erweckten den Eindruck, als haßten sie ihre KundInnen. Die Dinger sitzen nicht nur einfach unmöglich, sondern verleihen dem Körper zudem eine unvorteilhafte Leibesfülle.

Während sich die Teilnehmer der letzten AVE eindeutig in Richtung Club- und Streetwear bewegten, war das diesjährige Angebot breiter gefächert. Manches war vielleicht ein wenig albern, anderes dagegen vielleicht sogar bieder. Auch die Kitschfraktion war großzügig vertreten. Die meisten Kollektionen fielen sicher unter die Rubrik „tragbar“, ohne unbedingt an Witz eingebüßt zu haben. Und schließlich gibt es einfach Dinge, die sich erfreulicherweise auch nach neun Jahren nicht geändert haben: eine gewisse Lässigkeit, die über den Dingen steht. Allein die Models. Nicht etwa diese makellosen und halbverhungerten jungen Dinger klappern da über den Laufsteg, sondern ganz gewöhnliche Menschen mit ganz gewöhnlichen kleinen Schönheitsfehlern: Ungeputzte Schuhe, verrutschtes Make-up und Laufmaschen in den Strümpfen sind quasi Programm. Ebenfalls nicht ganz unwichtig für den Event: die Moderation des tuntigen Ades Zabel ist immer wieder so schlecht, daß sie schon wieder gut ist. Kirsten Niemann