Immer nur laufen

■ Abgekämpft: Franz Xaver Kroetz hat Büchners "Woyzeck" am Schauspielhaus in Hamburg als Depressivum inszeniert

Ein atlantisches Sturmtief tobte sich am Sonntag abend über Hamburg aus. Mit eingezogenen Köpfen eilte das Publikum ins Schauspielhaus und war gleich richtig eingestimmt. Der Theaterhimmel wölbte sich tief über die Bühne und entlarvte das große Baugerüst darunter als Euphemismus. Wer es hier darauf anlegte zu bauen, dem fiele der Himmel nur um so eher auf den Kopf. Ein Endspiel also, die Kapelle spielt Tango, eine dicke Frau mit Strapsen wirft einen kleinwüchsigen, livrierten Mann im Tanz herum, ein Pony mit Diadem frißt Heu, und hinter allen erstreckt sich der tiefe, leere Raum.

Franz Xaver Kroetz hat Büchners „Woyzeck“ inszeniert, und daß alles gleich so traurig ist, hat Gründe. Wie er im Programmheft erklärt, fühlt sich der 50jährige Dramatiker und Regisseur „abgekämpft und erschöpft“. Als „alter Kommunist“ mache ihn das „neue Manchestertum“ zwar wütend wie ehedem, doch als Autor könne er nicht mehr dagegen an. „Es gibt Verbrechen, es gibt die Mafia, es gibt Krieg, es gibt Not.“ Aber ein neues Stück von Kroetz, das gibt es nicht: „Für mich sind die plumpen, grauenhaften Siege der anderen, die ich ein Leben lang bekämpft habe, keine Stimulanz, sondern ein Depressivum.“

So hat es sich Kroetz in der Nische der Einheitsverlierer bequem gemacht, ohne doch vom Thema lassen zu können. Eine Zerrissenheit, die sich auch an seiner Arbeit an der Geschichte vom armen Soldaten „Woyzeck“ zeigt. Zunächst hat er die Szenen des 150 Jahre alten Fragments in einer „Kroetz'schen Fassung“ neu geordnet und teilweise konkretisiert. Pfeift Woyzeck bei Büchner, so pfeift er hier „frech“. Gleichzeitig schwächt Kroetz das Bewußtsein der Figur. Als ihm der Hauptmann von der Moral erzählt, sagt Woyzeck bei Büchner: „Wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein.“ Nicht so bei Kroetz. Da war ihm „zuviel Klugheit drin“!

In der Inszenierung geht die Demontage weiter. Der Kampf der geknechteten Kreatur um ein bißchen Stolz und Leben ist hier von Anfang an verloren. Man beobachtet lediglich Woyzecks allmähliches Verschwinden. Er, der sich für ein paar Groschen den Experimenten eines Doktors zur Verfügung stellt und durch den ausschließlichen Verzehr von Erbsen zu halluzinieren beginnt, er, den berechtigte Eifersucht schließlich zum Mord an seiner Marie treibt, hat hier die Bodenhaftung ganz verloren. Seine Beziehung zu Marie wird ins Ungefähre vernebelt, sein Konkurrent, der Tambourmajor, nimmt ihn gar nicht erst wahr.

In schäbiger Arbeitskleidung ruckelt Herbert Fritsch als Woyzeck steif und gebeugt über die Bühne, guckt befremdet an sich herab und steht ängstlich stramm, sobald man ihn anspricht. Um ihn herum die hessische Kleinstadtenge, die ihn geboren hat: chiffrenhaft verzerrte Volkstümlichkeit, vermischt mit schwitziger Altmännerphantasie. Marie (Catrin Striebeck) läßt ihren Busen im Freien wogen, der Doktor (Peter Brombacher) ist von einem Strahlenkranz irren Forscherhaars umgeben, kleine Mädchen spielen in Hängekleidchen Himmel und Hölle, der Tambourmajor (Edmund Telgenkämper) stolziert einher wie ein Nußknacker und trägt eine Tierpfote in der Hose. Später wird ein Hase geschlachtet, Marie steckt sich Topfblumenblüten zwischen die Beine, Männer rubbeln in der Hose, und die Kapelle schwankt zwischen Marsch und Jägerlied. „Grotesk, grotesk!“ ruft Henning Schlüter als Hauptmann textgetreu immer wieder und bekommt Abtrittsapplaus. Aber Kroetz, der Regisseur, will mehr. Dräuen soll es, und er dreht das Licht aus, läßt nur eine Kerze flackern und im Dunkeln munkeln.

Eine lichte Szene gibt es aber noch: Kurz bevor Woyzeck seine Marie ersticht, läuft er mit beider Kind im Wagen im Kreis vor ihr davon. „Weißt du auch, wie lang es jetzt ist, Marie?“ ruft er, und nach ein paar Runden: „Weißt du auch, wie lang es noch sein wird?“ Wie wünscht man sich, daß beide einfach weiterlaufen, das Gerüst umreißen, laufend die ganze Bühne einnehmen und noch immer laufen, wenn das Publikum traurig lächelnd schon den Saal verläßt. Aber den Mord läßt sich Kroetz nicht entgehen, und so wird zuendebewiesen, wie einer, der keine Chance hat, auch wirklich keine kriegt. Büchner – depressiv, mit dem einzigen Trost der Frivolität.

In schwarzer Lederjacke über hellgelber Krawatte kommt der Regisseur am Ende auf die Bühne. Heftig kaut er auf einem Kaugummi und winkt gleich ab, als ihn ein vielstimmiges „Buh“ empfängt. Dann aber kommt er noch einmal. Ganz allein steht er da und hebt provozierend die Arme. Und läßt sie wieder sinken, zieht den Kopf ein und geht. Petra Kohse

„Woyzeck. Die Kroetz'sche Fassung“. Regie: Franz Xaver Kroetz; Deutsches Schauspielhaus Hamburg