Jeder Bundeskanzler war ein IM der CIA

■ Stasi oder Rechtschreibreform: In der Berliner Akademie der Künste schlich sich eine prominente Gesprächsrunde am Thema „Literatur und Staatssicherheit“ vorbei

Seit Ende Oktober Joachim Walthers Band „Sicherungsbereich Literatur“ erschienen ist, herrscht Diskussionsbedarf. Die 888 Seiten umfassende Dokumentation über die Verquickung von Literaturbetrieb und Staatssicherheit war auch am Sonntag Thema in der Berliner Akademie der Künste. Auf dem Podium saßen neben Christoph Dieckmann als Moderator immerhin Stefan Heym, Egon Bahr, Friedrich Schorlemmer, Volker Braun, Katja Lange-Müller und Jan Faktor. Es hätte ein spannendes Gespräch über Ausmaß und Folgen der Stasi-Einmischung in den DDR-Literaturbetrieb, über den Zusammenhang von Moral und Ästhetik werden können. Was dabei herauskam, war jedoch eine Mischung aus Versöhnungsfeier und Therapiegespräch.

Den Tenor gab Walter Jens in seiner Begrüßungsrede im vollbesetzten Studiosaal der Akademie an: Mit dem Wissen, das Walther im Buch ausbreite, sei es möglich, das holzschnittartige Täter-Opfer- Schema zu durchbrechen und „Einsicht in die Grauzonen“ zu nehmen. Wo sie geboten sei, sollte souveräne Nachsicht walten. Zweitens aber müßten die Vorgänge schonungslos aufgeklärt werden.

Erst Nachsicht, dann Aufklärung? Wer sich über die Reihenfolge wundert, sollte sich an die Umstände der Akademie-Vereinigung erinnern. Ähnlich ging es im Statement Schorlemmers weiter, der auf die Frage, was für ihn Literatur in der DDR bedeutete, die griffige Formulierung vom „Lebensmittel“ parat hatte. Während die einen früher nach Bananen anstanden und heute Bild lesen, würden die anderen, die früher schon nach Büchern anstanden, auch heute noch Bücher lesen. So redete Schorlemmer munter drauflos, zog einen Bogen von der Konsumschelte zu den Innen- und Außenseiten des Lebens, um sich bei einer weiteren Wortmeldung zu dem bemerkenswerten Satz aufzuschwingen: „Gelogen wird auch heute, freilich nur geschickter.“

Egon Bahr schlug in dieselbe Kerbe. Jeder Bundeskanzler wäre im Grunde ein IM der CIA, da er natürlich Beziehungen zum größten westlichen Geheimdienst unterhalte. Bahr hatte auch einen praktikablen Vorschlag, wie mit dem ganzen Stasi-Schlamassel in Zukunft umzugehen sei. Gab es doch in der Bundesrepublik jenen berühmt-berüchtigten Paragraph 131, der Hitlers Beamte beinahe pauschal rehabilitierte. Warum, so lautet der Vorschlag von Bahr, sollte ein ähnliches Gesetz nicht auch für die Handlanger der DDR- Diktatur geschaffen werden? Man müsse doch nach vorn schauen.

Nun könnte man erwarten, daß solch gruselige Visionen lauten Protest provozieren müßten. Doch im Gegenteil: Volker Braun fuhr im gleichen Sinne fort, indem er dunkel von „fortarbeitenden Apparaturen“ sprach, vom nahtlosen Übergang und von den Akten der westlichen Geheimdienste, die gerechterweise ebenfalls auf den Tisch gehörten. Die ganze Veranstaltung nahm gespenstische Züge an, als Stefan Heym die Runde mit der These verwirrte, die Stasi hätte das sozialistische Experiment auf deutschem Boden zum Scheitern gebracht, indem sie für die Einrichtung von Intershops sorgte.

Katja Lange-Müller und Jan Faktor hatten es schwer, das Knäuel aus Abwiegelei und Altersstarrsinn auseinanderzufädeln. „Als ob jemand überhaupt wisse, was vorn ist“, hielt Lange-Müller den Formeln Bahrs entgegen. Und Faktor warnte davor, berechtigten Unmut über die gegenwärtigen Zustände mit den Argumenten derjenigen zu vermischen, die das DDR-System schönreden wollen. Schorlemmer warf er, rhetorisch nicht halb so beschlagen wie der Pfarrer, Populismus und Demagogie vor – wie zur Bestätigung protestierte das Publikum. Faktor war der einzige, der immer wieder darauf drang, beim Thema zu bleiben, während Bahr und Heym am liebsten über die Rechtschreibreform gesprochen hätten.

Daß es bei alledem keine Auseinandersetzung gab, lag wesentlich an der Zusammensetzung des Podiums: Wer sich Schorlemmer, Bahr, Braun oder Heym einlädt, will nur hören, was er schon weiß – Dieckmann sprach in seiner Moderation von Image-Kultur. Der erste, der sich dagegen mit professioneller Eloquenz verwahrte, war Schorlemmer: „Wir im Osten nehmen die Dinge ja noch so, wie sie sind, weswegen wir im Westen als naiv gelten.“ Niemand hat sich während der Veranstaltung übrigens gewundert, warum Joachim Walther, dessen vielgelobte Studie den Anlaß zur Debatte gab, nicht auf dem Podium saß. Der Autor selbst hat die Gründe dafür nicht erfahren. Peter Walther