Theoretiker an die Front!

Bielefelder Tagung: „Religiöser Fundamentalismus als Herausforderung der modernen Zivilgesellschaft“. Vor allem braves Selbstverständnis  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

„Ich bin nicht den weiten Weg aus Berlin hierhergefahren, um um den heißen Brei herumzureden.“ Am Ende eines langen Tages platzte dem Kreuzberger Lehrer Wolfgang Schenk der Kragen. Zu langatmig, abgehoben und relativierend waren ihm die von dem Politologen Thomas Meyer, dem Privatgelehrten Otto Kallscheuer und dem Orientalisten Friedemann Büttner vorgetragenen klugen Ideengeschichten christlicher und islamischer Fundamentalismen. „Damit kann ich in der Auseinandersetzung mit islamistischen Jugendlichen wenig anfangen, wenn die mir gegenüberstehen und sagen, daß unser Rechtssystem einfach Mist sei und das Heil in der Scharia liege“, gibt er erregt und natürlich völlig zu Recht zu bedenken. „Sagt mir, was ich tun soll!“ – Betretenes Schweigen.

Bereits nach den Einführungsreferaten hatten sich auf der Tagung „Religiöser Fundamentalismus als Herausforderung der modernen Zivilgesellschaft“, die vom 16. bis zum 18. Oktober an der Universität Bielefeld stattfand, die Fronten geklärt. Hier die lustvoll und geistreich um wissenschaftliche Systematik bemühten Theoretiker aus den Hör- und Vortragssälen. Nichts ist ihnen bekanntlich fremder als die interkulturellen Niederungen bundesdeutscher Innenstädte. Aus allen Winkeln der Erde – Vietnam, Italien, Berlin und Frankfurt/Oder – waren sie angereist. Dort die Frontkämpfer, die sich tagtäglich im Jugendzentrum oder Klassenraum mitten im Kampf um die Verteidigung der Standards der Zivilgesellschaft wähnen. Unverstanden und unbeachtet haben sie die ganze Wucht und Macht wenn schon nicht des „clashs of civilization“, so doch der einen oder anderen Geisteswirrnis alleine zu widerstehen. Keiner will ihre Bedrängnis hören.

Dazwischen agieren eifrige und aufmerksame Religionswächter wie Bekir Alboga vom Institut für deutsch-türkische Integrationsforschung in Mannheim. Sie tun das selbstredend im Namen des Dialogs. Berechenbar und strebsam meldet sich der Öffentlichkeitsarbeiter der Mannheimer Moschee immer dann zu Wort, wenn das Gespräch auf Gefahren und Schattenseiten des politischen Islam zusteuert. Albogas reflexhafte Botschaft: „Stoppt! Stoppt, liebe Landsleute! Denkt an al Andalus! An die Toleranz des Islams!“ Am zweiten Tag im Teutoburger Wald ist es schließlich so weit. Angesichts der bekennenden Atheisten, koranfesten Häretiker und anderer Vernunftsmenschen fordert Bekir Alboga zur „Internationalen Solidarität der Monotheisten“ auf.

Solch religiös untermauertes Selbstbewußtsein verunsichert das Häuflein der Schwankenden, Unsicheren und Suchenden. Die einstige politische Entschiedenheit im Kampf gegen katholizistisch-bajuwarische Sonderwege und orgasmusfeindlicher römischer Enzykliken ist verlorengegangen. „Keine Islamfeindlichkeit! Keine Argumentationshilfe dem alten Ideologie- und Klassenfeind!“ Dieses Mantra ist in so manche irritierte Augenpaare geschrieben.

Für diese zaudernde Fraktion stieg der akademische Oberrat Lutz Hoffmann in die Bütt und schlägt politisch einwandfreie Brücken: Vom historischen Antisemitismus via Antikommunismus zum zeitgenössischen Antiislamismus lauten demnach die Feindbilder, die die Bundesdeutschen zur gesellschaftlichen Integration und Identität bemühten. Nur dumm, daß die konstruierte Kontinuität inkohärent bleibt. So präzise Lutz Hoffmann den Zusammenhang zwischen dem völkischen Selbstverständnis der Deutschen und dem politischen Antisemitismus seit Ende des 18. Jahrhunderts ableitet, so schwammig bleibt die Herausarbeitung des von Hoffmann postulierten „Feindbild Islam“. Damit aus einer Behauptung doch noch ein theoretischer Schuh wird, setzt Hoffmann schnell mal „den Islam“ mit „den Ausländern“, „den Türken“ oder „den Asylanten“ gleich.

Deutlicher als seine These vom „Feindbild Islam“ ist Hoffmanns politische Absicht: Der Diskurskomplex Antisemitismus sollte das Stöckchen sein, über das jeder, der sich zum Islamismus äußert, springen sollte. Die Formel würde dann lauten: Kritik am politischen Islam = Antiislamismus = Antisemitismus = Holocaust.

Diese Argumentationskette, auch das konnte im Verlauf der Bielefelder Tagung studiert werden, zeigt durchaus ihre Wirkung. Ungewöhnliche Skrupel wurden offenbar. Niemand wollte sich dem Verdacht aussetzen, islamfeindlich zu sein. Bisweilen gerieten die Ausführungen so „sachlich“, daß man sich abschließend fragte: „Wo liegt eigentlich das Problem?“ Der Bremer Sprachwissenschaftler und Türkeikenner Klaus Liebe-Harkort, eingeladen zum Thema „Religiös motivierte Gewalt in der Türkei“ zu referieren, verweigerte sich gänzlich, um den Gegner ja nicht mit Informationen aufzumunitionieren.

Dabei haben sich die Veranstalter bei der Programmplanung größte Mühe gegeben, den Verdacht der Islamfeindlichkeit erst gar nicht aufkommen zu lassen. Brav wurde der christliche Fundamentalismus unter Aussiedlern ebenso berücksichtigt wie die Rolle der Religion im Krieg in Exjugoslawien.

Aber auch diese wissenschaftliche Redlichkeit konnte die Brisanz des Tagungsthemas „Religiöser Fundamentalismus als Herausforderung der modernen Zivilgesellschaft“ nicht gänzlich neutralisieren oder zumindest gerecht auf alle Religionen verteilen. Zumindest in der Bundesrepublik lassen sich der politische Katholizismus und Protestantismus nicht so einfach mit dem politischen Islamismus gleichsetzen – nicht einmal der Rückgriff auf Scientology und das Opus Dei kann da weiterhelfen.

Um so erfrischender war es, wenn Referenten wie der Kölner Reinhard Hocker den Ring betraten. Er analysierte die islamistischen Einflüsse in den Ausländerbeiräten in Nordrhein-Westfalen nach der 95er Wahl. Zur Erinnerung: Ausländerbeiräte sind jene kommunalen Einrichtungen, die vor gut 25 Jahren als Ersatz für die fehlende politische Partizipation geschaffen wurden.

Am erfolgreichsten waren bei den letzten Wahlen die Listen, die das Islamische betonten. Sie erhielten bis zu 50 Prozent der Wählerstimmen. Erfolgreicher als die Listen, die alle Migranten ansprachen, waren auch jene, die das Türkische betonten. Nach Hockers Analyse waren es vor allem „Milli Görüș“ und die „Grauen Wölfe“, die stärkeren Einfluß auf die Ausländerbeiratswahlen nahmen. Nach Reinhard Hocker stärkten die ausländerfeindlichen Übergriffe nach 1990 islamistische Positionen, ebenso die Rezeption des Kurdenkonflikts durch bundesdeutsche Medien. Viele nichtislamistische Türken fühlten sich durch den Kurdenkonflikt stigmatisiert und nicht wahrgenommen und wählten folglich islamistische Listen. Aber auch der Einfluß der türkischsprachigen Medien sei nicht zu unterschätzen. Hockers Forderung: „Wir müssen uns mit den Islamisten offensiv auseinandersetzen und nicht darüber nachdenken, ob unter diesen Umständen Ausländerbeiräte noch sinnvoll sind, wie das einige deutsche Politiker taten.“