■ Die Osterweiterung der Nato ist kein Projekt mit Zukunft, sondern ein Affront gegen Rußland ohne wirklichen Nutzen
: Gegen alle Vernunft

Pünktlich zum 50. Jahrestag des Nordatlantikvertrages sollen die ersten osteuropäischen Länder Mitglieder der Nato werden. Weniger die Nachricht an sich überraschte, sondern die Art ihrer Mitteilung. Denn keineswegs haben 16 Bündnisstaaten etwas gemeinsam beschlossen. Vielmehr war der US- Präsident so frei, die sogenannte Osterweiterung der Organisation am vergangenen Mittwoch zu verkünden. Offenbar hatte im Weißen Haus wieder einmal der Nato- Rat in Minibesetzung getagt: Es ist Wahlkampf in Amerika.

Unklar ist, ob es sich um einen Aufbruch in ein neues Zeitalter oder doch nur um die Restauration einer untergegangenen Weltordnung handelt. Denn weshalb das westliche Bündnis überhaupt gen Osten expandieren – in korrektem Nato-Deutsch: sich öffnen – soll, hat noch niemand schlüssig zu erklären vermocht.

Das Standardargument lautet: Die Regierungen Ostmittel- und Südosteuropas wollen es so. Unbestreitbar trifft dies zu – aber warum wohl? Bislang hat keiner der ungeduldigen Antragsteller eine Gefährdung seiner Sicherheit, die sich durch Unterschlupf in einer Militärallianz beheben ließe, glaubhaft gemacht. Übrig bleibt nur der reine Wunsch nach Mitgliedschaft. Doch der überzeugt in der Brüsseler Nato-Zentrale kaum. Würde jedes Land, das beitreten möchte, auch dem Bündnis angehören dürfen, wäre flugs ganz Europa unter dem Nato-Dach versammelt.

Was die westliche Allianz seit ihrer Gründung sein wollte, war nie fraglich: ein Zusammenschluß von Staaten, die sich gegenseitig Beistand versprechen im Falle einer Bedrohung von außen. So steht es in der Satzung, und an der soll sich künftig nichts ändern. Nun sind Notwehr und Nothilfe unbestrittene, unbestreitbare, auch nach innerstaatlichem Recht erlaubte Mittel des Selbstschutzes. In der Sprache der Sicherheitspolitik bedeutet Notwehr Verteidigung. Am Begriff läßt sich nicht deuteln: Verteidigung heißt Abwehr. Es muß einen Angriff geben und einen Angreifer, um fortdauernde Verteidigungsanstrengungen zu begründen. Der Ost-West-Konflikt bot in dieser Hinsicht den Luxus klarer Verhältnisse.

Aber der Ost-West-Konflikt ist vorüber. Es gibt keine identifizierbare Bedrohung mehr, keinen Feind, nicht einmal einen Gegner. Etwas anderes zu behaupten, hieße, alle sicherheitspolitischen Autoritäten und amtlichen Lageanalysen aus westlichen Hauptstädten Lügen strafen. Also muß sich die Nato, will sie nicht lautlos von der Bildfläche verschwinden, eine andere, zumindest ergänzende Sinnstiftung zulegen.

Die Palette schillernder Wortschöpfungen rührt daher: Stabilitätstransfer, Krisenbewältigung, Partnerschaft für den Frieden. Die ehrlichste Auskunft gab vor zwei Jahren das oberste Bündnisgremium selbst, als es lakonisch befand: Die Nato sei eine Gemeinschaft von Staaten zur Verteidigung gemeinsamer Interessen.

Vom Verteidigungsbündnis zum Interessenverteidigungsbündnis? Die semantische Differenz scheint winzig, der reale Unterschied ist gewaltig. Interessen verteidigt man militärisch per Intervention. Verteidigung bedeutet Abwehr eines Angriffs auf ein eigenes Rechtsgut. Intervention bedeutet Eingriff und Einmischung in Rechtsgüter anderer. Das ist das Gegenteil von Verteidigung. Wenn dazu das Eigeninteresse als Legitimation ausreicht, wären wir wieder beim Faustrecht angelangt.

Nicht die Aufnahme neuer Mitglieder allein, erst die Gleichzeitigkeit mit der schleichenden Umwidmung des Bündniszwecks macht die Nato-Osterweiterung zu einem brisanten Vorgang.

Wo immer seit 1990 einzelne Bündnisstaaten oder die Nato als Organisation auf Kriegs- und Krisenplätzen aktiv wurden, geschah dies mit abnehmender Rückbindung an ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Den Ifor-Einsatz in Bosnien zum Beispiel konnte die UNO erst absegnen, nachdem ihn die Nato bis ins Detail geplant und beschlossen hatte. Die in der UN-Charta geregelten Kompetenzen wurden auf den Kopf gestellt. Der diplomatische Burgfrieden von New York scheint in Gefahr. Was könnte die Nato tun, wenn das weltpolitische Klima rauher wird und sich der UN-Sicherheitsrat nicht länger als Akklamationsorgan erweisen will?

Für diesen Fall glaubt sie sich ausreichend gewappnet durch die Konsultationsklausel des Nordatlantikvertrages. Dieser Artikel IV, kürzester der ganzen Satzung, besagt zwar nicht mehr, als daß die Vertragsparteien einander konsultieren, wenn eine von ihnen es wünscht. Jedoch hat sich inzwischen eine vollständig sinnfremde Auslegung herausgebildet. Längst sprechen Politiker und Militärs wie selbstverständlich von Artikel-IV- Aufgaben der Nato und meinen damit das militärische Vorgehen der Allianz außerhalb der in ArtikelV geregelten Beistandsleistungen im Bündnisfall. Mit anderen Worten: Eine Artikel-IV-Operation ist ein Militäreinsatz oder ein Krieg, den die Nato führt und bei dem die UNO nicht gefragt wird.

Läßt sich bezweifeln, daß jeder Staat Europas, der im Nato-Erweiterungsfahrplan nicht vorkommt, Grund hat, beunruhigt zu sein? Das Expansionsprojekt verunsichert auf doppelte Weise. Es bestätigt zum einen die Nato in ihrer angestammten Funktion als Verteidigungsbündnis. Erfahrungsgemäß braucht ein Bündnis sein bündnisgemäßes Umfeld – und dazu gehört der militärische Kontrahent. In Frage kommen alle, die ihm nicht angehören, aber vorzugsweise diejenigen, die ihm nie angehören sollen. Also richtet sich die Sicherheitsvorsorge wieder gegen vorbestimmte Staaten statt gegen definierte Risiken.

Zum anderen drängt sich die Nato in die Rolle der für Konflikt- und Krisenkontrolle auf dem Kontinent generell zuständigen Sicherheitsorganisation. Volle Mitsprache genießen jedoch nur die Mitglieder. Den Nichtmitgliedern bleibt die Wahl, sich entweder dem Bündniskommando zu unterstellen oder auf Teilhabe zu verzichten. So funktioniert derzeit die militärische Umsetzung des Dayton-Abkommens. Nicht zufällig gilt sie in Brüssel als wegweisendes Modell für die Zukunft.

Und die vielbeschworene strategische Partnerschaft mit Rußland? Wie immer sie ausfallen mag: Ausgrenzung in Gleichstellung zu verwandeln, das kann sie nicht vollbringen. Im Klartext: In der Frage von Frieden und Krieg in Europa wird Moskau etwas mehr Mitwirkungsrecht erhalten als Moldawien oder Turkmenistan, aber etwas weniger als Luxemburg oder Island. Eine Antwort auf die Herausforderungen von morgen ist das kaum. Reinhard Mutz