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Lügenbits schwirren im Raum

■ Die Wahrheit der einzelnen Bewegung: William Forsythes medial arrangierter Ballettabend „Sleepers Guts“ in Frankfurt

William Forsythe konzipiert seine Tanzabende schon seit Jahren als Triptychon, sein neuestes wird eingeleitet durch ein multimediales Schwergewicht: eine einstündige Tanzinstallation; die Tänzer sprechen Satzfetzen aus einem Forsythe-Text und umkreisen die Lüge in Sprache und Tanzbewegung. Sowohl in den Einzelchoreographien und Formationen sind jene „digitalen“ Bewegungsabläufe zu sehen, mit denen Forsythe schon seit längerem experimentiert. Von einem Körperteil geht eine Bewegung aus und pflanzt sich fort, als folgten digitale Signale aufeinander, die alleine keinen Sinn ergeben. Wo aber keine schlüssige körpersprachliche Geschichte mehr erzählt wird, ist die totale Lüge möglich – oder die Wahrheit der einzelnen Bewegung.

In der Summe von Forsythes Lüge/Wahrheit-Spiel entfalten die einzelnen Tänzer des Ensembles allerdings ein jeweils individuelles und sehr poetisches Eigenleben. Als schwirrten Bits durch den Raum, die sich immer wieder treffen, während vier Tänzerinnen als „Lügnerinnen“ in unterschiedlichen Posen in Mikrofone sprechen: zweifelnd, aggressiv, predigend. In einem der Texte erzählt Dana Caspersen, oft seien ihr Dinge einmal so, dann aber wieder so erschienen. Im dritten Teil des Abends, einem elegischen Pas de deux als kleines Pendant zum ersten Teil, sitzt sie wieder auf der Bühne und spricht diesen Text.

Für seine Tanzinstallation hat sich Forsythe eine gröbere Variante ausgedacht. Im ersten Teil präsentiert er das Thema auch mit Tänzern, die in bunten, togaähnlichen Gewändern als laszive Römer wandeln. Einer stellt sich Kaugummi schmatzend an ein Mikrofon, was im ersten Moment als witziger Bruch, nach einiger Zeit aber allzu gezwungen wirkt. Im Hintergrund schwebt die ganze Zeit eine schräggestellte Leinwand des amerikanischen Videokünstlers Bill Seaman, der kongenial bedient, womit Forsythe sich schon seit längerem intensiv beschäftigt: mit dem Doppelgesicht elektronischer Medien.

Forsythe bedient sich ihrer Möglichlichkeit, ohne sich ihnen zu ergeben, und katalogisiert seine Choreographien etwa per CD- ROM in Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Gleichzeitig wird damit aber auch eine neue Seite des ewigen Buches „Bilder lügen“ aufgeschlagen, verliert der Tanz die Aura seines Ereignischarakters.

Passend dazu läßt Seaman auf der schräggestellten Leinwand parzellierte Satzteile wandern und blendet Körperteile der auf der Bühne agierenden Tänzer und Musiker ein. Das reproduzierte Fragment erscheint wie zufällig, verschwindet im Raum und führt sich selbst als Zufallsprodukt vor. Am Ende des ersten Teils dann ein sehr schönes Seaman-Bild: Auf der Leinwand steht in schwarzweiß „A flat thing“. Gemeint ist die Leinwand, die plötzlich grell orangefarben erglüht. Die Schrift verschwindet fast, bevor alles wieder in den Urzustand zurückkehrt.

Es folgen Teil zwei und drei des Triptychons, in denen Forsythe und sein Komponist Thom Willems in den letzten Jahren starke Kontrapunkte setzten.

Nicht so beim diesjährigen „Sleepers Guts“, das man mit „Mut des Schläfers“ übersetzen könnte. Willems bleibt in seiner Komposition beim meditativen Grundton mit jähem Wechsel zum chaotischen Klanggeräusch. Auf der Bühne vier reale Musiker, deren direkt produziertes „Material“ elektronisch weiterverarbeitet wird. Im zweiten Teil reagiert das reduzierte Ensemble als wohl strukturiertes Chaos, als wollte es noch einmal puren Tanz vorführen. Obwohl doch klar ist, daß die Reise in eine andere Richtung geht. Jürgen Berger

„Sleepers Guts“. Choreographie: William Forsythe, Musik: Thom Willems, Video: Bill Seaman, Kostüme: Stephen Galloway. Weitere Vorstellungen: 30., 31.10., 1. bis 3.11.

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