Das Beste aus Nickelsdorf

Morgen beginnt das 33. Berliner JazzFest – mit Mittelmäßigem, längst Gesehenem und überalterter Organisationsstruktur. Wo ist die eine Million für das „höchstsubventionierte Jazzfestival der Welt“ bloß hingegangen?  ■ Von Christian Broecking

Wer auf der amerikanischen Jazzszene sich einen Namen macht, den bestraft das JazzFest – so ließe sich kurz zusammenfassen, was sich dieses Jahr in Berlin tut. Resigniert resümieren in die Jahre gekommene Festivalmacher in deutschen Landen, daß der finanzkräftigen Hofierung amerikanischer Jazzmusiker auf deutschen Bühnen keine Gegenbewegung folgte. Mit dem Resultat, daß Sie, wenn Sie etwa Sonny Rollins sehen wollen, am kommenden Sonntag zum Jazzfestival nach Maastricht fahren müssen. In der Hauptstadt, wo in der JazzFest-Etage seit Jahren über einen Auftritt des Saxophongiganten philosophiert wird und wo man sich so toll darin wähnt, ein Budget zur Verfügung zu haben, mit dem man sich auch die teuersten Acts leisten könnte, tut man, als sei man ganz arm dran. Und ist es irgendwie auch, leider.

Vielleicht erinnern Sie sich: Der Posaunist Albert Mangelsdorff, Grandseigneur des deutschen Nachkriegsjazz, hat letztes Jahr in Berlin sein nicht unumstrittenes Debüt als Festivalmacher gegeben. „Eine politische Entscheidung“, hieß es dazu von seiten des Intendanten der veranstaltenden Berliner Festspiele GmbH, Prof. Dr. Ulrich Eckhardt. In Zeiten knapper werdender Subventionen brauche es einen Kandidaten, der fachkompetent, international erfahren und respektiert sei, den auch der letzte Lokalpolitiker kennt, wenn er pro Kultur seinen Arm heben soll. Hintergrund dafür: Berlin hat das höchstsubventionierte Jazzfestival der Welt – so geht jedenfalls die stolze Rede. Und vielleicht gerade deshalb erwischt einen das klamme Gefühl von hinten, daß sich hier welche so konkurrenzlos glücklich wähnen, ein Programm zusammenstückeln zu dürfen, über das man andernorts nur mit den Schultern zuckt.

Mangelsdorff übernahm zehntausend Besucher und einen Etat, der trotz Kürzungen auch in diesem Jahr wieder die Millionenmarke erreicht, und eine „gewachsene“ Struktur, die sich jedoch längst überlebt hat. Die einst in den sechziger Jahren vom Gründer der Berliner Jazztage, Joachim-Ernst Berendt, angeschobene Finanzierungsstruktur aus Bund, Berliner Senat, Immer-ARD und Gelegentlich-ZDF bröckelte im Dekadenlauf, bis übrigblieben: ein knappes Subventions-Viertel von der ARD, ein knappes Halbes Senat und rührige Sponsoren aus der Bank- und Bierbranche.

Sie erinnern sich vielleicht an die New-School-Strukturen der sechziger und siebziger Jahre, als Lenco-Plattenspieler ohne Endabschaltung hip und der Vietnamkrieg Thema waren. Damals wurde in den Jazzredaktionen der ARD-Anstalten ein Gremium gegründet, das dem künstlerischen Leiter des Berliner Jazzfestivals beratend zur Seite stehen sollte. Jedoch – je mehr die Medienmacht der Öffentlich-Rechtlichen schwand, desto wichtiger tat ausgerechnet jenes Gremium.

Seit Anbeginn hatten sich alle ARD-Anstalten verbunden, um das Festival zu übertragen – ein Spezifikum, das eigentlich den Olympischen Spielen, Fußballweltmeisterschaften, Salzburg und Bayreuth vorbehalten war. Nur infolge dieser Unterstützung durch die Gesamt-ARD konnten die damaligen Berliner Jazztage, die seit Anfang der achtziger Jahre JazzFest Berlin heißen, zu einem einflußreichen und weltweit beachteten Festival werden.

Natürlich hat das JazzFest 96 auch ein Motto: Frankreich. Wie originell, könnte man meinen, vor allem eingedenk der Tatsache, daß die subventionierte Konzertreihe „Jazz Across The Border“, die jeden Sommer ebenfalls im Berliner Haus der Kulturen der Welt stattfindet und mit einem Fünftel des JazzFest-Etats mittlerweile einen quantitativ vergleichbaren Aufwand betreibt, so originell schon mal war. Von Spielleiter Huesmann vor fünf Jahren mit großem Alternativ-Trara in Szene gesetzt, haben sich hier die Programm- Ideen bereits abgenutzt.

Was bei „Jazz Across The Border“ noch nicht gezeigt wurde, gibt es beim JazzFest am Freitag spätnachmittag mit den Fake- und Bratpfannen-Ensembles La Marmite Infernale und Compagnie Lubat de Gasconha aus der französischen Jazzprovinz, außerdem in der gesetzt respektfordernden Variante des Martial Solal/Didier Lockwood Duo und dem Stéphane Grappelli Trio Sonntag mittag. Am frühen Samstagabend gibt es das zu Recht als „seltenes Gipfeltreffen dreier Solitäre der französischen Jazzszene“ angekündigte Konzert von Louis Sclavis, Henri Texier und Aldo Romano.

Alte Kollegen, die, wie Mangelsdorff selbst, stets mit dem im Business als Pech zu bezeichnenden Umstand dealen mußten, in europäischen Kulturkreisen verankert zu sein, hat es auch dieses Jahr im Programm. Das Willem Breuker Kollektief können Sie Donnerstag abend hören und sehen und – als Nachschlag zum Vorjahresmotto – das langlebigste Free-Jazz-Trio der Jazzgeschichte, das Schlippenbach-Trio, am Freitag abend – hören und sehen, wie gesagt.

Beides sind Acts, die seit einem Vierteljahrhundert auf der Szene sind, so alt also wie die ARD-Gremium-Struktur selbst, die sich im Unterschied zu ebendieser jedoch dem historisch gewachsenen Mut zur Freiheit, zu Swing und Respekt verpflichtet haben und nicht der engstirnigen Bestandssicherung. Für den Leiter der Jazzredaktion des WDR, nach wie vor reichster ARD-Sender, und derzeitigen Gremiumssprecher der ARD, Dr. Ulrich Kurth, gehören die Konflikte, die mit der Politisierung des Jazz oder, besser gesagt, der Jazzrezeption Ende der sechziger Jahre einsetzten, der Vergangenheit an. Das betrifft nicht etwa nur die Ideologisierung des Jazz, sondern auch die Frage des vor langer Zeit vielbeschworenen Generationswechsels im Jazz. Daß der WDR eine eigene Bigband unterhält, die natürlich auch gelegentlich mal auftreten sollte, ist sicher ehrenwert. Daß jedoch dies – im Wechsel mit der NDR-Bigband – ausgerechnet immer auf dem JazzFest Berlin stattfinden muß, bleibt fragwürdig. Zeugen solche Großprojekte doch eher selten von der hohen Qualität, die sich einst auf dem Papier so nett las. Wenn Sie Zeuge sein wollen, wie Legenden sich noch während ihres Lebens überleben, dann schauen Sie sich das „New York City Blues“-Projekt mit Dr. John & WDR Bigband am Samstag nachmittag an. Sie werden sich B. B. King herbeisehnen, der mit New York auch nicht viel am Hut hat.

Wenn Sie wissen wollen, was der Bayerische Rundfunk in diesem Jahr beisteuert, dann schauen Sie sich unbedingt seine 93er Produktion mit Jon Rose an, „Eine Violine für Valentin“ – im Familienprogramm am Sonntag nachmittag. Sie ahnen schon: Festivalakte, die nur in Berlin stattfinden, suchen Sie fast vergeblich im Programm. Stéphane Grappelli hätten Sie vor kurzem erst in Leipzig, Howard Johnson & Gravity und Maria João in Leverkusen sehen können. Gerry Hemingway war fast auf jedem 96er Jazzfestival in deutschen Landen präsent, und der New Yorker Shooting-Star in Sachen Jazzorchesterleitung, Maria Schneider, leitet dieser Tage Workshops und Ensembles zwischen Schleswig-Holstein und Bayern. Ihre New Yorker Formation macht den Opener des JazzFests am Donnerstag abend. Die Fachzeitschrift Jazzthetik kommentierte bereits in humorig engagierter Einsätzigkeit, daß das JazzFest Berlin „in diesem Jahr die besten Veranstaltungen aus den Festivals in Ulrichsberg, Nickelsdorf und Moers übernommen hat, plus einen der besten Gigs, die das Total Music Meeting und dessen Tradition anzubieten hat: das Alexander von Schlippenbach Trio“.

Das traditionell parallel zum JazzFest stattfindende Total Music Meeting (30.10. bis 3.11. im Podewil) dagegen klotzt – gänzlich ohne öffentlich-rechtlichen Strukturzwang – in diesem Jahr an fünf Konzerttagen mit zwei der eigenwilligsten Musikerpersönlichkeiten in der Geschichte des „New Thing in Jazz“: Cecil Taylor und Steve Lacy. Kurz gesagt: mit Acts, die so nur in Berlin stattfinden.

Lacy, alljährlicher Kritikerfavorit in Sachen Jazzsopransaxophon, lebt seit einem Vierteljahrhundert bereits als American in Paris. Am diesjährigen JazzFest-Motto kritisiert er die fehlende politische Sensibilität der JazzFest-Leitung angesichts der extrem nationalistischen Kulturpolitik des französischen Staates, die er in der Pariser Jazzszene dieser Tage in Form eines regressiven Antiamerikanismus sich ausbreiten und wirken sieht. „Politisch wie ästhetisch kurzsichtig und gefährlich“, so Lacys Einwand gegen jedwede Unterstützung einer Kulturpolitik im Zeichen rechtsnationalistischen Rollbacks. Das tangiert selbstredend nicht Mangelsdorffs ehrenwerte Absicht, doch endlich mal der europäischen Jazzfolklore eine verdiente Bühne zu bieten und deshalb weitgehend auf amerikanische Highlights zu verzichten – es schimmert nur etwas schräg.

Bliebe noch zu klären, wo denn die Million Deutschmark geblieben sind? Kurz gesagt: Das JazzFest zahlt höchste Gagen. Für ein Wunschkonzert von übermüdeten Jazzfunktionären, für einen künstlerischen Leiter, der kein Programm hat, für hochkarätige Musiker, die, wenn sie nicht bereits in Berlin leben, regelmäßig in der Stadt auftreten, für Zweit- und Drittnutzungen, für Papiertiger und rührige Kleinkunst. Aktualität, Exklusivität und ambitionierte Projekte seien in der heutigen Festivallandschaft kaum mehr zu haben, heißt es nun schon seit Jahren. Daß jedoch ausgerechnet Berlin darauf abonniert sein soll, unhipper zu sein als jedes Dorffestival, verweist vornehmlich auf eine überalterte Entscheidungsstruktur, die so komplex, kompliziert und überflüssig ist wie ein Büroschlaf am Sonntag.

Würde die ARD heute das JazzFest fallenlassen, wäre damit auch die Arbeit des Gremiums, das den sukzessiven Verlust von Jazzsendeplätzen mit selbstherrlicher Ignoranz aussitzt, beendet. In ein anderes Jazzfestival würde die ARD kaum mehr investieren. Darum, so schallt es aus dem Gremium, möchte heute keiner mehr die heilige Kuh JazzFest gegen eine magere Ziege tauschen, die gar keine Milch mehr gibt. Ziegenkäse schmeckt etwas strenger als Schafskäse und ist nicht so verbreitet. Aber wie Kuhmilch schmeckt, nachdem ihr alles Kuhige entzogen wurde, das wissen Sie vielleicht.

Das JazzFest Berlin '96 findet vom 31.10. bis zum 3.11. im Haus der Kulturen der Welt statt.