Romantisierte Sklaverei

Seit dem Großen Vaterländischen Krieg 1945 lehrte man das russische Volk, den Mann mit dem Gewehr zu lieben und zu bewundern. Doch seit Afghanistan und Tschetschenien ist der Krieg etwas anderes geworden  ■ Von Swetlana Alexijewitsch

Ein Mensch liegt auf dem Boden, umgebracht von einem anderen Menschen. Nicht von einem wilden Tier, nicht von der Natur oder dem Schicksal, sondern von einem anderen Menschen. In Jugoslawien, Afghanistan, Tadschikistan oder Tschetschenien.

Manchmal überfallen mich schreckliche Gedanken zum Geheimnis des Krieges. Der Wahnsinn hat gesiegt, aber ein Blick in die Runde zeigt, daß die Welt sich ungerührt weiterdreht. Man sieht fern, eilt zur Arbeit, ißt, raucht, läßt sich die Schuhe besohlen, streitet, hört Musik. Heute ist das nichts Verrücktes mehr, mit automatischen Gewehren herumzulaufen. Aber eine klare Frage zu stellen: Warum liegt dieser Mensch da auf dem Boden, umgebracht von einem anderen Menschen? – das gilt als Verrücktheit.

Man erinnere sich an Puschkin: „Ich liebe Blut und das Spiel des Krieges. Das Bild des Todes wärmt meine Seele.“ Das ist 19. Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert spricht: „Selbst wenn das ganze Arsenal, das uns den globalen Tod bescheren kann, zerstört würde, bliebe das Wissen, mit dem es einmal gebaut wurde, doch erhalten. Es gibt keinen Weg zurück zum Nichtwissen“ (Ales Adamowitsch).

Die Kunst hat jahrhundertelang Mars gepriesen, den Gott des Krieges. Und jetzt wissen wir nicht mehr, wie wir ihm die blutigen Kleider herunterreißen können...

Und das ist ein Grund, über den Krieg zu schreiben. Vor Jahren sah ich in meinem Dorf an Radunitsa (Volkstrauertag) eine kleine alte Frau auf einem überwachsenen Hügelchen knien. Sie betet ohne Tränen, ohne Worte. „Das ist nichts zum Angucken, meine Kleine“, sagten die Frauen des Dorfes zu mir und zogen mich weg. „Besser, du weißt nichts. Keiner sollte wissen.“ Aber in einem Dorf gibt es keine Geheimnisse. Im Dorf lebt man eng beieinander. Später hörte ich, daß sich während der Blockade der Partisanen alle in den Wäldern und Sümpfen vor den Strafexpeditionen versteckt hatten – mit vor Hunger geschwollenen Bäuchen und halbtot vor Angst. Auch diese Frau mit ihren drei kleinen Töchtern war dabei. Eines Tages war allen klar, daß entweder alle sterben würden – oder wenigstens einige überleben. Die Nachbarn hörten das jüngste Kind nachts betteln: „Mama, bitte ertränk mich nicht! Ich will auch nie mehr um mein Abendbrot bitten, wirklich Mama, nie mehr!“ Einschnitte im Gedächtnis...

Kein Bericht kann sich mit der Realität messen

Auf einer meiner Reisen traf ich einmal eine zierliche Frau, die trotz der Sommerhitze ein wattiertes Schultertuch trug. Sie flüsterte mir in eindringlichem Ton zu: „Ich ertrage das Reden nicht, ich will mich nicht erinnern. Nach dem Krieg konnte ich jahrzehntelang in keinen Schlachterladen gehen. Ich ertrug die Fleischstücke nicht, vor allem das Hühnerfleisch, wie Menschenfleisch. Und ich konnte nichts Rotes nähen. Ich habe so viel Blut gesehen. Ich will mich nicht erinnern, ich kann nicht...“

Bücher über den Krieg habe ich nie geliebt – aber dann habe ich selbst drei geschrieben. Wenn man mit dem Tod lebt, mit diesen Geschichten und Erinnerungen, kommt man immer wieder und wieder auf die Frage nach den Grenzen unserer Menschlichkeit und was wohl hinter ihnen liegt. „Es gibt nicht viel Menschlichkeit in den Menschen“, sagt einer in meinem Buch „Zinkjungen“. „Soviel habe ich in den Bergen und Felsen von Afghanistan gelernt.“

Bis heute haben wir das Bild vom Großen Vaterländischen Krieg vor Augen, dem Soldaten von 1945. Jahrzehntelang lehrte man uns, den Mann mit dem Gewehr zu lieben. Und das taten wir. Seit Afghanistan und Tschetschenien aber ist der Krieg etwas anderes geworden. Und seitdem zweifle ich an dem, was früher darüber geschrieben wurde. Wobei ich meine eigenen Arbeiten nicht ausschließe. Denn wir haben uns durch die Augen des Systems gesehen, nicht als KünstlerInnen.

Eine alte Bäuerin erzählte mir, wie sie als Kind am Fenster saß und sah, wie ein junger Partisan dem Müller von nebenan mit seinem Gewehr einen Schlag auf den Kopf versetzte. Der Müller fiel nicht hin, er setzte sich nur hart auf die winterhart gefrorene Erde mit seinem gespaltenen Kopf. „Da habe ich den Verstand verloren“, sagte sie weinend. „Meine Mutter und mein Vater haben mir jahrelang zu helfen versucht, haben mich zu allen möglichen Heilern gebracht. Aber immer wenn ich einen jungen Mann sah, habe ich geschrien und angefangen zu fiebern und habe den alten Müller vor mir gesehen mit seinem wie ein Kohlkopf gespaltenen Kopf. Ich habe nie geheiratet. Ich hatte Angst vor Männern, vor allem vor jungen...“

Da ist auch die Geschichte der Frau, die mit den Partisanen gekämpft hat. Ihr Dorf war niedergebrannt, ihre Eltern waren bei lebendigem Leib in der Holzkirche verbrannt. Und sie ging danach immer wieder hin und sah den Partisanen zu, wie sie ihre deutschen Gefangenen von der Besatzungspolizei umbrachten. Ich höre noch ihr hysterisches Flüstern: „Ihnen quollen die Augen aus den Augenhöhlen und platzten, man holte sie ihnen mit Stöcken heraus. Ich sah zu, danach fühlte ich mich besser.“

Im Krieg entdecken wir etwas in uns, was wir nie für möglich gehalten hätten: Wir wollen töten, es macht Spaß. Ein Aspekt unserer biologischen Natur, von dem wir nichts ahnten; in unserer Literatur kommt er nicht vor. Wir unterschätzen ihn, glauben zu sehr an die Macht der Worte und Ideen. Und keine Geschichte, selbst der genaueste Bericht, kann sich mit der Realität messen.

Dokumentation? Nur ein Paß ist authentisch

Draußen in Afghanistan hörte ich einen jungen Wehrpflichtigen brüllen: „Was verstehst du schon vom Krieg! Eine Schriftstellerin. Sterben die Leute hier etwa wie in Büchern oder Filmen? Da sterben sie einen schönen Tod. Gestern wurde ein Freund von mir getötet. Eine Kugel durch den Kopf. Er rannte noch zehn Meter und sammelte dabei sein Gehirn auf. Willst du das schreiben?“

Und sieben Jahre später rief er mich an, derselbe Mann, heute ein erfolgreicher Geschäftsmann, der sich gern an seine Abenteuer in Afghanistan erinnert. Er fragte mich: „Was willst du eigentlich genau mit deinen Büchern erreichen? Sie sind zu blutig.“ Das war nicht mehr der Junge, den ich damals, als er zwanzig war, unter den Toten traf und der nicht sterben wollte. Die Geschichte eines Lebens enthält viele Charaktere, die zufällig denselben Namen tragen.

Ich aber habe zwanzig Jahre lang versucht, Dokumentationen, wenn auch in literarischer Form, zu schreiben. Jetzt weiß ich nicht mehr, was eine Dokumentation ist. Das einzige „authentische“ Dokument, das mich nicht zweifeln läßt, ist heute ein Paß oder eine Straßenbahnfahrkarte. Aber was erzählt das den Menschen in hundert Jahren? Nur, daß unsere Druckereien nicht besonders gut waren. Alles andere ist Interpretation.

Als mein Buch „Zinkjungen“ vor Gericht gezerrt wurde, mußte sich dieses Dokument ernsthaft vor der Öffentlichkeit verantworten. Damals begriff ich, welchen Verlust es bedeuten würde, wenn Dokumente ausschließlich von Zeitgenossen kontrolliert würden. Wenn sie zum Beispiel vor dreißig Jahren allein verantwortlich gewesen wären fürs Abschreiben von „Archipel Gulag“ oder Büchern von Schalamow oder Grossman. „Die Wahrheit ist ebenso geheimnisvoll wie unzugänglich“, schrieb Albert Camus, „und man muß ewig um sie kämpfen.“ Um sie kämpfen, damit man sie versteht.

Die Mütter der in Afghanistan gefallenen Soldaten kamen mit den Fotos und Medaillen ihrer Söhne in den Zeugenstand. Sie weinten und schrien: „Seht, wie jung und schön sie waren! Unsere Söhne! Und dann schreibt sie, daß sie da drüben gemordet haben.“ Und zu mir sagten sie: „Wir brauchen deine Wahrheit nicht. Wir haben unsere eigene Wahrheit.“

Der Weg von der Wirklichkeit zum Wort ist lang und beschwerlich. Und doch ist er es, der die Archive unserer Menschlichkeit bauen hilft. Man hat dieses Gefühl, daß die Gegenwart nicht wirklich existiert. Wir kennen keine Gegenwart, nur Vergangenheit oder Zukunft oder das, was Brodsky „die reale Zeit in ihrer Verlängerung“ nannte. Realität ist Erinnerung. Sie verschwindet und bleibt erhalten in Erinnerungen, in Worten – unvollkommene Instrumente: zerbrechlich, verräterisch und relativ. Geiseln der Zeit. Und dann ist da der Zeuge, gefangen zwischen Wirklichkeit und Wort. Drei Zeugen desselben Ereignisses bedeuten drei Interpretationen, drei Versuche, die Wahrheit zu sagen.

Wenn eine Mutter, die ihren Sohn an den Staat verloren hat und ihn in einem Zinksarg zurückgeschickt bekommt, ekstatisch schreit: „Ich liebe mein Land! Mein Sohn ist dafür gestorben! Und ich verfluche dich und deine Wahrheit!“, sehe ich wieder, daß wir nicht nur Sklaven sind, sondern die Sklaverei auch noch romantisieren. Nur eine einzige unter Hunderten von Frauen, die ich so traf, schrieb mir: „Ich habe meinen eigenen Sohn getötet! Sklavin, die ich war, erzog ich ihn zur Sklaverei.“

Uralte Phrasen über Rache, Haß und Pflicht

Kommunistische und nationalistische Zeitungen rufen die Menschen auf, unter ihren blutroten Fahnen zu demonstrieren. Aber es ist zu einfach zu sagen, daß allein Politiker für alles verantwortlich sind. Das Blutbad ist hinter uns, die Erde ist oft und oft durchwühlt und umgegraben. Und doch findet man keine Folterer. Keiner gibt eine Schuld zu. Alle sind Opfer... Manche sagen, sie lieben ihr Land und haben alles in seinem Namen getan (soll das Land sich verantworten, – dafür sind all diese Liebeserklärungen gedacht). Andere sagen, daß sie Blut vergossen haben für ein Ideal. Und man weiß nicht, ob sie mehr Angst vor der Reue haben oder vor allem unfähig sind zur Freiheit. Dazugehören, sich einer höheren Autorität unterwerfen, dem Staat, sich auflösen, in ihm verschwinden: das sind Existenzformen einer religiösen oder kriegerischen Gesellschaft. Wir sind beides gewesen. Wir sind in diesen Traditionen so aufgegangen, daß wir nicht ahnen können, wie sehr wir immer noch eine kriegerische Gesellschaft sind oder wie sehr wir Leben und Tod nur in militärischen Kategorien begreifen.

Ich war überzeugt davon, daß man der Wahrheit bis zum Ende auf der Spur bleiben muß. Als ich mit der Tatsache konfrontiert war, daß eine italienische Erdmine von der Größe eines Kinderspielzeugs einen Menschen in einen halben Eimer Fleisch verwandeln kann, zögerte ich, das hinzuschrieben – aber ich tat es. Weil ich dachte, daß, je einfacher und ernüchternder ein Tod sein kann, desto wichtiger ein Menschenleben in der Kunst genommen werden sollte. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht haben wir den Punkt erreicht, an dem keine Umkehr mehr möglich ist.

Wir brauchen keine Freiheit. Wir wissen nicht, was das ist oder was wir damit anfangen sollen. In unserer Geschichte existiert keine einzige Generation, die Krieg und Mord nicht kennt und dabei einfach weitermacht. Wir haben nie anders gelebt, wir haben immer in enger Gemeinschaft miteinander gelebt. Wir wissen nicht, wie man unabhängig voneinander leben kann, wie man Verantwortung für sich selbst und die eigenen Übertretungen übernimmt.

Ein Mann liegt in Grosny auf der Straße, umgebracht von einem anderen Mann, und starrt in den Himmel. „Schreib darüber!“ sagt man mir. Aber ich kann nicht. Nichts ist wichtiger als ein einzelnes Menschenleben. Toter Körper. Toter Vogel. Totes Haus. In wessen Namen? Russische Soldaten, die ihre Stiefel im Meer abwaschen... Tschetschenisches Öl zu fördern... Sind wir wahnsinnig? Kann einer, der nicht verrückt ist, sich Tag für Tag Mord im Fernsehen ansehen, Mord im Radio anhören?

Ich ging zu einer dieser Beerdigungen... Sie begruben einen jungen Offizier, dessen Leichnam aus Grosny nach Hause gebracht worden war. Ein kleiner Menschenkreis formte sich um das frisch ausgehobene Grab... Eine Militärkapelle... Stille, kein Weinen, nicht einmal von den Frauen... Ein General hielt die Rede: dieselben Phrasen, die wir seit Jahrzehnten, Jahrhunderten immer wieder hören, über die Unverletzlichkeit unserer Grenzen, über Großrußland und Rache und Haß und Pflicht. Kann töten Pflicht sein? Ein kleines Mädchen schaute ins rotausgeschlagene Grab, verletzlich, naiv. „Papa. Wo bist du? Warum sagst du nichts? Du hast mir versprochen zurückzukommen... Ich habe dir ganz viele Bilder gemalt. Papa, wo bist du?“ Nicht einmal die Militärkapelle konnte ihre Ungläubigkeit übertönen. Und dann wird sie weggezerrt vom roten Grab wie ein wildes Tier und zum Auto getragen. „Papa! Pappi! Pa...!“

Ein menschliches Wesen unter uns. Aber der Diskurs des Erwachsenseins geht weiter nach uraltem Ritual. Ein Eid. Ein Salut. Es gibt keinen Krieg. Aber die Särge für Rußland sind auf dem Weg, während ich dies schreibe.

Swetlana Alexijewitsch ist Journalistin und Schriftstellerin. Für ihre streitbaren Arbeiten über Feminismus, russische Truppen in Afghanistan und Tschernobyl erhielt sie 1966 den Tucholsky-Preis des schwedischen PEN.