Transzendierende Schneckenküsse unter der Lupe

■ Das Regie-Duo Nuridsany und Pérennou über Insekten-Casting und Kameratricks in Mikrokosmos

Einen Tag und eine Nacht lang dauert die Wiesenreise der französischen Biologen und Filmemacher Claude Nuridsany und Marie Pérennou. In perfekten Makroaufnahmen zeigen sie kommentarlos das Nebeneinander von Insektenvölkern und Einzelgängern. Unter der Lupe ihrer Kamera wird ein Raubvogel zu King Kong, ein kurzer Schauer zum Bombenhagel, ein Schneckentanz zur schwülen Romanze und tierisches Schicksal zur Parabel auf menschliche Dramenstoffe.

taz: In „Mikrokosmos“ nimmt die Kamera eine Welt überdimensional wahr, die wir sonst höchstens zertreten unter unseren Schuhabsätzen finden. Ist das Kamera-Auge so etwas wie Alices „Looking-glass“?

Marie Pérennou: Alice im Wunderland ist unser Referenzwerk. Der Anfang des Films, der Flug durch die Wolken runter in die Wiese und dann tief in diese Welt hinein, ist eine Parallele zu Alices Fall in den Hasenbau, dem Beginn ihrer Reise. Wir heben die Dimensionen auf nach demselben Prinzip, das Alice so klein und die Raupe so groß macht. Und die bekannte Raupenerzählung, in der das Tier Alice seine Metamorphose schildert, taucht, wenn auch stumm, bei uns auf.

Claude Nuridsany: Alice betritt eine Welt des Phantastischen. Das Insektenreich ist zwar auch phantastisch, aber genauso wirklich

Ist das wirklich so wirklich? Ihre Aufnahmen sehen so perfekt aus, daß sie schon ins Hyperreale kippen. Haben Sie nicht getrickst?

Nuridsany: Wir haben zwar ein richtiges, szenisches Drehbuch geschrieben und Rollen besetzt. Aber wir wußten nicht, was die Insekten im einzelnen darbieten würden. Auf einer Bühne haben wir ein Stückchen Wiese nachgebaut und die Akteure hineingesetzt. Wir wollten Bilder einer Welt, die ein bißchen transzendieren. Technische Tricks gab es beim Libellenflug über den Teich. Wir haben mit Kleinstkameras gearbeitet, die an einem ferngesteuerten Modell-Hubschrauber befestigt wurden, der die Libelle flottierte. Der Hintergrund wurde hinzumontiert.

Pérennou: In einer Szene haben wir das Verhalten der Tiere schon beeinflußt. Um zu zeigen, wie ein Fasan Ameisen frißt, mußten wir einen gezähmten Fasan casten, sonst hätten wir zehn Jahre auf so eine Szene warten können.

Sind Sie zwei Biologen mit Kamera oder Regisseure mit Biologiestudium?

Pérennou:Der Film läßt uns hinter unser Wissen als Biologen zurücktreten, wieder einen unverstellten Blick auf die Natur bekommen. Jedes Kind hat sich ins Gras gehockt, Insekten angeschaut und dazu Geschichten gesponnen. Deswegen verzichten wir ganz auf Gewaltdarstellungen, obwohl die meisten Dokumentarfilme über Insekten sie fälschlicherweise als besonders grausam präsentieren.

Der Regen ist eine Katastrophe, die Verletzte und Obdachlose mit sich bringt, und der Pillendreher erinnert an Sisyphos. Werden in „Mikrokosmos“ menschliche Dramenstoffe mit Tierpersonal gesponnen?

Pérennou: Es war uns wichtig, dramaturgisch vorzugehen und dadurch so eine Art Komplizenschaft zwischen Mensch und Tier-Protagonisten herzustellen. Es soll aber freigestellt bleiben, welche Analogien der Zuschauer ziehen will. Tiere haben immer etwas Mythisches. Diese Bezüge müssen sein, damit sich überhaupt jemand so etwas anschaut.

Der Liebestanz der Schnecken gipfelt in einem der längsten Filmküsse. Gab es hierfür Vorbilder, wie Bogart und Bacall?

Nuridsany: Da standen viele berühmte Paare Pate. Die Szene beginnt damit, daß man zwei Tiere sieht, die es miteinander treiben und endet damit, daß man sie schlicht als Liebespaar wahrnimmt. Dieses Seht-mal-her-so-machens-die-Schnecken verwandelt sich in eine Romanze.

Soll ihr Publikum vorsichtiger durch Wiesen stampfen, damit ihr Ensemble nicht kaputtgeht?

Nuridsany: Das wäre zwar schön, aber wohl unrealistisch. Mit einem bißchen mehr Staunen und Respekt hätten wir schon viel erreicht. Fragen: Birgit Glombitza

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