Betschal und Avantgarde

■ „An der Schwelle zum Neuen - im Schatten der Vergangenheit“: Jüdische Kulturtage in Oldenburg zeigen traditionelle und moderne Lebenswelten

Natürlich ist Oldenburg nicht die erste Stadt, die Jüdische Kulturtage veranstaltet, mit Konzerten, Lesungen und Vorträgen. Beachtlich allerdings ist die Herangehensweise: „Wir haben uns um eine andere Focussierung bemüht, als sie sonst üblich ist“, sagt Irmtraud Rippel-Manß, Leiterin des Kulturamts, „es sollte nicht rückwärtsgewandt werden. Wir haben moderne Künstler auf ihr Selbstverständnis angesprochen.“ Wie steht es um die jüdische Kultur in Deutschland, fünfzig Jahre nach der Schoah? Auf diese Frage, so hatte sich die Stadt gewünscht, sollten nicht akademische Vorträge antworten, womöglich noch von Nichtjuden gehalten, sondern die jüdischen Künstler und Künstlerinnen selbst. So hat man die Schweizer Komponistin Silvia Bodenheimer-Eichenwald aufgefordert, die deutsche Erstaufführung ihres neuen Stücks „Reigen von Leben und Tod“ nach Oldenburg zu verlegen.

Bundesweit einmalig im Rahmen einer solchen Veranstaltung ist die Vielfalt der Antworten, die die bildende KünstlerInnen geben: Von der Malerei über grafische bis hin zu plastischen Arbeiten ist alles vertreten. Die umfangreiche Ausstellung ist nicht zuletzt der Galeristin und Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Sara-Ruth Schumann, zu verdanken. Die ausgewählten Arbeiten zeigen kulturelle Realität von heute. Sie zeigen auf, was 50 Jahre nach der Vernichtung deutsch-jüdischer Kultur an jüdischer Kunst in Deutschland wächst und sich verändert. So „spielt“ der 38jährige Ben Hur auf seinen großformatigen Graphit-Arbeiten mit lateinischen Buchstaben auf tiefblauem Grund, während er die hebräischen Schriftzeichen in warme Erdtöne packt. Künstlerische Begegnung von Christentum und Judentum.

Einen eindeutigen religiösen Bezug nehmen die Arbeiten der aus Rußland emigrierten Künstler. Schließlich ist der jüdische Glaube für sie das Bindeglied, das sie nach Deutschland gebracht hat. Michail Schnitman (Drucke und Ölgemälde) experimentiert mit starken Farben und Symbolen aus der Thora. Auch die Künstlerin Lubow Simonenko stellt jüdisches Leben mit all seinen Riten und Traditionen auf großen, ungewöhnlichen Betschals dar. Die kleine Jüdische Gemeinde hat die Kulturtage von Anfang an mitvorbereitet. Sara-Ruth Schumann legt Wert auf die besondere Ausrichtung: „Wir wollen nicht mehr nur als Opfer definiert werden.“ Das Motto „An der Schwelle zum Neuen – im Schatten der Vergangenheit“ ist Ausdruck dieser Haltung. Auch wenn man diesem Schatten nicht abschütteln kann, geht es doch heute um die selbstbewußte Lebendigkeit jüdischer Kultur in Deutschland.

Trotzdem: Die Befangenheit der nichtjüdischen BesucherInnen ist auf den Veranstaltungen zu spüren. Sie kommen zahlreich. Und schweigen zumeist. Nur nichts Falsches sagen. Auf einem Literatenkolloquium erzählt Salomea Genin von einer Autorenlesung in Dänemark, wo die Menschen ohne diese Schuldbarriere reagiert hätten. Doch wie soll das möglich sein in Deutschland fünfzig Jahre nach dem Massenmord an dem jüdischen Volk?

„Es gibtThemen, die von einem deutschen Nichtjuden so nicht aufgegriffen werden dürfen und auch nicht werden“, sagt der Erzähler und Lyriker Robert Schindel (Wien) in Bezug auf die Literatur. „Meine Ursprungsangst ist eine jüdische, die durch das Schreiben gebannt werden soll.“ Bekanntlich ist Aufklärung überaus nützlich, um Tabus abzubauen. Die Jüdischen Kulturtage bemühen sich darum.

Gunda Wöbken-Ekert