Gustav mit der Hupe im Freien angetroffen

Wie das Feuilleton den Bundeskanzler beobachtete – und ihn plötzlich in den eigenen Reihen fand  ■ Von Michael Rutschky

Fast jeder männliche Mensch – bei den weiblichen weiß ich das Gegenstück nicht – ist in seiner Jugend auf Gustav mit der Hupe gestoßen. Zunächst natürlich in Erich Kästners Kinderbuch „Emil und die Detektive“. Gustav mit der Hupe nimmt Emil Tischbein, im Zug von Neustadt nach Berlin von Herrn Grundeis um 140 Mark bestohlen, in der großen Stadt unter seine Fittiche; die Jungshorde, die er um sich schart, wird Herrn Grundeis zur Strecke bringen.

Dann aber trifft man Gustav mit der Hupe, von Kästner instruiert, im Freien wieder.

Auf dem Schulhof dieser schon mächtig hochgewachsene, auch etwas fette Bursche, der mindestens die Schüler seiner eigenen Altersgruppe zu regieren scheint, ein kompliziertes System von Gefolgsleuten und Gefälligkeiten, das Gustav mit der Hupe Einfluß bei der Aufstellung von Fußballmannschaften ebenso wie von Klassen- und Schulsprechern sichert.

Wobei die Hupe ein Lärmsignal ist, das ihm, ohne daß er die Stimme heben müßte, Aufmerksamkeit verschafft. Zugleich bildet die Hupe eine Art narzißtischer Körpervergrößerung, einen Beeinflussungsapparat; in meiner Jungshorde besaß der eine Gustav das Moped, der andere verstand das von der Schule frisch angeschaffte Tonbandgerät so kompetent zu bedienen, daß er ganz unentbehrlich wurde. Bei dem Gustav, von dem hier die Rede ist und den seine Kumpels auf dem Schulhof „Helle“ riefen, hat sich die Hupe zum Bundeskanzler ausgewachsen.

Kästners Jungshorde löst sich ebenso wie die unsere auf, wenn ein gewisses Alter erreicht ist. Emil Tischbein wie der kleine Dienstag und der Professor verlieren jeden Kontakt zu Gustav mit der Hupe, sie studieren Geisteswissenschaften, auch Soziologie, womöglich im Ausland, der Professor wird wirklich einer und Emil Tischbein Feuilletonchef dieser renommierten Zeitung. Mag sein, daß sie auf dem Weg dorthin noch einmal dem einen oder anderen Gustav begegnen, dieser Hochschulassistent, der mit geblähter Jovialität immer alles schon im Griff hat, dieser Herausgeber, bei dem narzißtische Blähung und Allwissenheit nur noch von zwei Flaschen Chivas Regal täglich aufrechterhalten werden. Normalerweise lassen wir aber hier in der Kultur den Gustav unserer Jugend im Lauf des Lebens hinter uns, samt seiner Schulhofintrigen, seines Lärmverstärkers und der anderen narzißtischen Beeinflussungsapparate.

Und dann war er plötzlich Bundeskanzler geworden.

Die ersten Jahre von K.s Kanzlerschaft widmete sich der Feuilletonist Emil Tischbein mit großer Sorgfalt einem Phänomen, das er K.s Ungeschick nannte, die zahllosen Patzer und Pannen, von der Affäre Kießling über den Kanzleramtsminister (und Schulfreund) Schreckenberger bis zum Besuch auf dem Bitburger Soldatenfriedhof. Für den Feuilletonisten Emil Tischbein wuchs sich das Ungeschick von K. zur Signatur des postmodernen Zeitalters aus. Der Professor, einer für Soziologie, arbeitete an einer materialreichen elitetheoretischen Untersuchung, die die politische Klasse der Bundesrepublik als eine rundum kleinbürgerliche und ihr Ungeschick als das von sozialen Aufsteigern erweisen sollte. Ein zentrales Kapitel galt dem Bundestagspräsidenten Jenninger, den einzig „Habitusfehler“ (Pierre Bourdieu) um sein Amt brachten, falsche Intonation, falsche Körpersprache bei einer repräsentativen antifaschistischen Rede vor dem Parlament (die Habitusfehler schienen ihn als unverbesserlichen Nazi zu enttarnen).

Über ihrer Leidenschaft für das Ungeschick, die kulturelle Unterlegenheit von K., vergaßen der Feuilletonist Emil Tischbein ebenso wie der Professor (für Soziologie), daß sie selbst Aufsteiger waren, Emil der Sohn einer Friseuse aus Neustadt, kein Sproß einer alteingesessenen Bürgerfamilie aus dem Frankfurter Westend. Für den Friseusensohn bildete „Feuilletonist“ einen Traumberuf; von weiter oben war er leicht als Parvenü zu erkennen, der an dem kostbaren und komplizierten Instrument der Kultur kaum weniger tollpatschig herumfingerte als K. an seinem Regierungsapparat.

Ein kompliziertes Austauschverhältnis: Das Feuilleton beobachtete das Ungeschick von K. während seiner früheren Kanzlerjahre und fühlte sich dadurch seiner eigenen Verhaltenssicherheit in kulturellen Dingen versichert. „Der sprachlose Schwätzer“ überschrieb Emil Tischbeins Kollege Karasek eine Grundsatzkritik von K.s performativen Qualitäten. So konnte sich die Kultur, schon indem sie den Bundeskanzler beobachtete, ihrer eigenen Macht vergewissern.

Insgesamt waren ja die achtziger Jahre nett zur Kultur; das Feuilleton durfte wieder Feuilleton sein und brauchte sich nicht mehr mit der Angst und dem Wunsch herumzuquälen, es müsse Politik werden, revolutionäre Politik. Langsam wich der Schatten von Jan Raspe, der Emil Tischbein in irgendeiner radikalen Ad-hoc- Gruppe der späten Sechziger bekannt geworden war, von seinem Leben. Er bekam seinen ersten Vertrag und ein, wie ihm schien, schier unglaubliches Monatsgehalt von 5.000 Mark. Er kaufte sich ein größeres Auto und wurde regelmäßiger Gast in diesen eleganten, hell ausgeleuchteten Bars und Restaurants der achtziger Jahre. Seine Leidenschaft für Klamotten, der er in den franziskanisch-asketischen Siebzigern nur verdeckt gefrönt hatte, wurde vom Eleganzprogramm der Achtziger tüchtig hervorgelockt.

Daß darüber Gustav mit der Hupe präsidierte, machte wenig, weil ihn schon sein Fett, sein Provinzlerdialekt, sein Ungeschick vom Eleganzprogramm ausschlossen. Die Gegenwelt zur Bundesrepublik, als welche sich die Kultur, das Feuilleton der Bundesrepublik von Anfang an gesehen hatte – in der ehrwürdigen Tradition des deutschen Bildungsbürgertums, das Geist gegen Macht auszuspielen liebte –, diese Gegenwelt zur Politik wurde vom Bundeskanzler nicht bedroht, im Gegenteil: Wuchs nicht unter seinen eigenen Jungs unaufhörlich die Unzufriedenheit betreffs Gustav mit der Hupe? „Wir wollen friedlich miteinander untergehen, ähm, umgehen“, erklärte er (im März 1989) mit der bekannten krampfhaften Leutseligkeit dem TV-Reporter während einer der auffälligen Koalitionskrisen, und das Feuilleton schüttelte sich lachend vor Überlegenheit; die ganze Zeit war ja von den Jungs im Hintergrund Stoltenberg als kompetenter Nachfolger aufgebaut worden. Stoltenwer?

Dann kam der November 1989, und seitdem steht Gustav mit der Hupe in derselben ikonographischen Reihe wie Otto von Bismarck. Emil Tischbein und seinesgleichen, wir Feuilletonisten, wurden recht kleinlaut, wenn es um die offenbare Inkompetenz des Bundeskanzlers K. ging. Auch gewann er immer wieder die Parlamentswahlen ...

Daß das Feuilleton sich notwendig besser auf Politik versteht als die Politiker, muß noch zu den Illusionen der Siebziger gerechnet werden. Weil Emil Tischbein und die anderen Feuilletonisten als soziale Aufsteiger nichts Eiligeres zu tun hatten, als sich von ihrem Herkunftsmilieu, einschließlich der frühen Jungshorde, zu entfernen, deshalb entging ihnen, daß die Schulhof- und Streetcredibility, die Gustav mit seiner Hupe damals erwarb, gar keine so schlechte Voraussetzung für die Eroberung des Bundeskanzleramtes war. Klar, er brauchte dann lange – learning on the job –, um das Instrument auch erfolgreich zu handhaben, das einfache Tröten mit der Hupe, die bräsige Jovialität, das launige Kumpeln reichten nicht mehr. Aber das Gelächter, das K. im Feuilleton mit seinem Bekenntnis zu Hölderlin, Tucholsky ausgelöst hatte, saß einer Fehlinformation auf; Gustav war auf seine Hupe angewiesen, um den Job zu lernen, nicht Hölderlin oder Tucholsky.

Eine größere Umorganisation von Geist und Macht in den achtziger Jahren kam hinzu. Das politische Lager, dem der Bundeskanzler K. vorsteht, hörte auf, das Feuilleton, die Kultur, als Gegenwelt der Bundesrepublik anzuerkennen, dies Lager knüpfte seine eigenen Kontakte mit der Kultur an. Daß der kleine Dienstag – aus der Urhorde – Assistent von Herrmann Lübbe wurde und damit eine hübsche Karriere in politischer Philosophie begann, darüber mochte Emil Tischbein noch verständnislos den Kopf schütteln.

Das dollste Ding in puncto Geist und Macht aber drehte das konservative Lager, als in den achtziger Jahren die repräsentativste und mächtigste seiner Zeitungen, die FAZ, ihre Feuilletonredaktion erneuerte, indem sie eine Jungshorde vom Typus „Emil und die Detektive“ einsetzte. Und unser Emil Tischbein mußte Tag für Tag mit Wut, Neid und Bewunderung zur Kenntnis nehmen, daß diese Jungs das Ironie- und Eleganzprogramm der Achtziger weit besser erfüllten als er und seine Jungs. Jedenfalls fiel ihnen kaum etwas ein – „die Neunundachtziger“? „Bilderpazifismus“? –, um die FAZ- Jungs zu übertreffen. Das politische Lager des Bundeskanzlers K., den das Feuilleton so lange als narzißtisch geblähten Gustav mit der Hupe verspottet hatte, baute im Feuilleton selber eine überlegene Position auf.

Die Geschichte nahm noch eine weitere überraschende Wendung. Der „Emil“ der FAZ-Urhorde, ein weichgesichtiger junger Mensch namens Schirrmacher, dessen Beiträge immer wieder die besondere Bewunderung und verwirrte Wut unseres Emil Tischbein, des traditionell linksliberalen Feuilletonisten, erweckt hatten, dieser Schirrmacher verwandelte sich im Laufe der Begebenheiten unverkennbar und unwiderstehlich in niemand anderen als den Typus „Gustav mit der Hupe“. Der dank eines eigenen roten Telefons, schimpfte unser Emil Tischbein, besonders enge Kontakte mit dem Bundeskanzler K. pflegt.

Was unseren Emil Tischbein erneut zu verwirrtem, ohnmächtigem Hohnlachen stachelt. Er liest das FAZ-Feuilleton weiterhin mit Unterlegenheitsgefühlen und Aufmerksamkeit. Und muß sich als dessen Teil, womöglich Mitwirkenden, also den Bundeskanzler K. vorstellen, der anfangs das reine, lächerliche Gegenüber des Feuilletons gewesen war ...