Die Erkundung des Kleinen

Tausendgüldenkraut, Schnirkelschnecke, Bibernelle oder Siebenpunkt – „Mikrokosmos“ von Marie Pérennou und Claude Nuridsany rekonstruiert den Kinderblick. Sichtbar wird lakonisches Werden und Vergehen  ■ Von Andreas Seltzer

Wie sah Gott Himmel und Erde am sechsten Tag? Sah er sie auf Augenhöhe aller Lebewesen, die er erschaffen hatte, aus der Menschenperspektive? Oder als unsichtbarer Kartograph aus den Tiefen des Universums?

Die Genesis gibt darüber keine Auskunft. Das Auge Gottes, so meinen unsere Bilder, blickt auf uns herab, und selbstverständlich schaut der Gläubige, der um Erhörung betet, nach oben. Der Wechsel vom Oben zum Unten, vom Panorama zum Detail, gilt als Exkursionsbewegung des Beobachtens. Deshalb wird er auch so oft an den Beginn vieler Filme gesetzt.

Das jüngste Beispiel dieses Wechsels zeigt ein Naturfilm: In „Mikrokosmos“ von Claude Nuridsany und Marie Pérennou fängt die Erkundung des Kleinen im Großen an, zwischen Wolkenbänken. Eine Weile schwebt die Kamera, begleitet von Sphärengesängen, durch Kumuluserhebungen, als sei sie auf der Suche nach den Engeln, die das Werk des Herrn lobpreisen. Nachdem sie nicht fündig wird, senkt sie sich rasch hinab und durchstößt die Wolkendecke. Die Baumwipfel eines Waldes werden sichtbar, dann sanfte, grün bewachsene Hügel. Immer tiefer geht es, bis zu einer Wiese. Über ihr gibt es ein kurzes Zögern, dann gleitet die Kamera an Grashalmen entlang weiter nach unten und macht schließlich auf dem Erdboden eine sanfte Landung.

Schon mit dieser ersten Bildfolge wird deutlich, was der Film uns dann in immer neuen Facetten erzählen will: Der Ort des Wunderbaren ist nicht im Wolkennebel, er kann dort sein, wo wir gerade sind, beim Spaziergang etwa am Weg oder in der Wiese. Nur innehalten muß man, und schon entdeckt man die kleine Bibernelle, das Tausendgüldenkraut, den kleinen Klappertopf oder die Schnirkelschnecke und den Siebenpunkt.

Der „Mikrokosmos“ von Nuridsany und Pérennou, das ist die Welt der Insekten. „Unsere Absicht war es“, so erklären sie, „ständig mit den Insekten auf gleicher Höhe zu sein; als ob man mit dem Kinn auf der Erde liegt, weil man so besser in ihr Umfeld eindringen kann.“ Was sie dabei festhalten, scheint uns aus eigener Anschauung, mehr aber noch über die Vermittlung des Fernsehens und der Naturfotografie vertraut. Ihnen gelingt es aber, all das, was als außergewöhnliches Naturbild in Abertausenden Lehr- und Unterhaltungsfilmen zum Standard wurde, wegzuwischen. Sie schärfen unseren Blick fürs Nahe, wir sehen die Natur im kleinen wie das erste Mal und erkennen dabei, wie sehr die meisten übermittelten Naturbilder auf falschem Vertrautsein gründen.

Was den beiden Biologen, die seit mehr als 20 Jahren Fotobücher und Filme über die Mikrowelt machen, hier glückt, ist die Rekonstruktion des Kinderblicks. Obwohl auch sie nicht ganz auf die dramaturgischen Mittel der klassischen Naturfilme, etwa der True Life Adventures von Walt Disney, verzichten, zwingen sie ihre Bilder doch nie in die Muster der routinierten Kinounterhaltung. Die Tiere sind bei ihnen keine verkleideten Schauspieler, die auf den nächsten Applaus warten. Sie werden nah gezeigt und behalten doch ihre Distanz. Ihre Fremdheit bleibt gewahrt und damit auch das Interesse des Zuschauers.

Daß eine Raupe durchs Moos kriecht, das hat auf den ersten Blick nichts Besonderes; daß man einem Marienkäfer beim ersten Morgenflug zusieht, klingt nach Biologieunterricht, bei dem man gegen die Schläfrigkeit ankämpfen muß. Aber es ist spannend; und ihre Spannung bekommen diese Bilder dadurch, daß sie immer dann wechseln, wenn das Dargestellte beginnt, pittoresk zu werden. Was hätte Walt Disney aus jener Bildfolge gemacht, in der zwei Waldameisen einen Tautropfen trinken? Eine Groteske wahrscheinlich, ähnlich jener Szene aus „Die Wüste lebt“, in der der Liebestanz der Skorpione zu einer Art Square Dance montiert wurde. Außerdem hätte es die passende Musik dazu gegeben und obendrein noch einen launigen, aus dem Off gesprochenen Kommentar. Hier dagegen putzen sich Ameisen, begatten sich Marienkäfer und balancieren Heuschrecken auf schwankenden Halmen ohne die im gewöhnlichen Naturfilm eingesetzten Hintergrunderklärungen, die sie automatisch zu pädagogischen Demonstrationsobjekten machen. Auch auf die Musik wird nicht verzichtet; aber sie kommt den Bildern nicht zur Hilfe: ein paar Takte da, ein paar dort, ein kurzes Liedfragment, das sich dann in Naturgeräusche auflöst – das muß genügen, um eine konzentrierte Stimmung zu schaffen. „Der Ton“, sagen Nuridsany und Pérennou, „ist der springende Punkt in ,Mikrokosmos‘. Er ist eine Art Muster, das den Film von Anfang bis Ende durchzieht. Es hält die Gefühle aufrecht; wie ein Parfüm durchdringt es die Geschichte...“

Auch bei ihnen öffnen und schließen sich Blüten im Zeitraffertempo, doch dies Mittel, das seit der Entwicklung der Mikrokinematographie durch Jean Comandon im Jahre 1910 oft genutzt wird, um Entwicklungsstadien rascher sichtbar zu machen, dient hier nur dem Übergang zum Tiermotiv, so wie Jean Epstein es benennt: „Der Zeitraffer belebt und vergeistigt, die Kristalle führen ein pflanzliches Leben, und die Pflanzen werden den Tieren ähnlich.“

Ihr Mikrokosmos zeigt das Werden und Vergehen lakonisch, es ist nichts als Einatmen und Ausatmen. Jeder tut dort, was er seiner Bestimmung gemäß tun muß. Die Wespenspinne lauert am Rand ihres Netzes auf Beute und macht den Grashüpfer, der sich bei ihr verheddert, blitzschnell zum Spinnwebpaket; die Weinbergschnecken betasten sich mit ihren Fühlern und umschlingen sich im klebrigen Liebesspiel; die Prozessionsraupen machen ihre Nahrungswanderungen, marschieren hintereinander, bilden Ketten und verknäueln sich am Ziel in eine pelzige Freßmaschine; die Waldameisen schleppen Körner und Kerne in ihr Vorratslager und werden von einem Fasan verfolgt, der viele von ihnen mit hammerhartem Schnabelschlag niedermetzelt.

Das ist Natur, sagen diese Bilder, ihr Geheimnis ist nicht exotisch; sie kann es schon in der nächsten Parkanlage offenbaren, wenn man nur hartnäckig genug fragt, so wie es Jean-Henri Fabre tat, der große Insektenforscher des 19. Jahrhunderts. Fabre, den Darwin einmal den unvergleichlichsten aller Beobachter nannte und der sich als armer Lehrer kein Laboratorium leisten konnte und erst mit 57 Jahren als Beobachtungsfeld ein Ackergrundstück in der Provence, seinen „Harmas“, erwerben konnte, er ist mit seiner liebevollen Versenkung ins Kleine mit seiner Geduld und seiner schlichten und klaren Sprache das ungenannte Vorbild dieses Films. „...und dann“, schreibt er um 1880 in seinen zehnbändigen „Souvenirs Entomologiques“, „dann meine geliebten Insekten, wenn ihr die braven Leute nicht überzeugen könnt, weil euch das Gewicht des Langweiligen fehlt, laßt es mich ihnen sagen: Ihr zerstückelt das Tier, aber ich studiere es lebend; ihr macht aus ihm einen Gegenstand des Schreckens und des Mitleids, und ich mache, daß man es liebgewinnt; ihr arbeitet in einer Folterkammer und in einem Schlachthof, ich beobachte es unter blauem Himmel beim Gesang der Zikaden; ihr erprobt Zellen und Protoplasmen in den Reagenzien, ich studiere den Instinkt in seinen höchsten Kundgebungen; ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben.“ Wie er das tut, enthüllt er im neunten Band der „Souvenirs“: „Ich habe es mir zum Gesetz gemacht, in meinen Forschungen über den Instinkt die Methode des Nichtwissens anzuwenden. Ich lese sehr wenig. Statt in Büchern zu stöbern, statt andere zu befragen, bleibe ich hartnäckig bei meinem Objekt. So steht es mir frei zu fragen, wie ich will, heute so, morgen so, je nach den Auskünften, die ich erhalten habe...“

Viele Insekten, die Fabre beobachtete, tauchen ebenfalls im „Mikrokosmos“ von Nuridsany und Pérennou auf: der heilige Pillendreher und der Prozessionsspinner etwa oder die Gottesanbeterin und das Nachtpfauenauge – sie alle sind auch dort kein Lehrpersonal, sondern Mitwirkende einer einfachen Geschichte. Diese Einfachheit hat freilich hohe Kunst erfordert, und sie gibt wieder, was selten ist: das Staunen.

„Mikrokosmos“. Ein Film von Claude Nuridsany und Marie Pérennou. Frankreich 1995, 77 Minuten. Großer Preis der Technik Cannes 96