■ Bettler sollen aus deutschen Innenstädten verjagt werden – und Hamburg wollte just dabei die Avantgarde spielen
: Die Pädagogik des Überflüssigen

In München werden Bettler und Stadtstreicher, die sich nicht freiwillig aus Fußgängerzonen verziehen, in die grüne Minna verladen und am Stadtrand ausgesetzt. Das klingt mittelalterlich, ist es aber nicht. Auch in Hamburg macht derzeit der „Verbringungsgewahrsam“ von Bettlern Schlagzeilen. Der Geschäftsführer des Einzelhandelsverbandes sagt, „Handel und Bettler passen einfach nicht zusammen“. Der FDP-Vorsitzende in der Hansestadt behauptet, Bettler verdienten täglich 200 Mark, weshalb Polizisten an Bettler Steuerbescheide verteilen sollten. Diesen Angriff aus der Welt der Flüssigen auf die der Überflüssigen nennt der FDP-Vorsitzende eine „pädagogische Maßnahme“.

Angezettelt hat die ernstgemeinte Geisterdebatte der sozialdemokratisch geführte Senat mit einem Papier, das mit „Maßnahmen gegen die drohende Unwirtlichkeit der Stadt“ überschrieben ist. Darin wird überlegt, wie die „Visitenkarten“ der Stadt von Bettlern und anderen „Randständigen“ saubergehalten werden können. Dieses Papier wurde nun zurückgezogen. Trotzdem war es für viele Menschen willkommener Anlaß, auszusprechen, was sie über die „Randständigen“ denken. „Das ist wie eine Störung an einem normalen Arbeitsplatz, die will man ja auch beseitigen“, plauderte stellvertretend für sie jener Geschäftsführer der Verbände des Einzelhandels aus.

„Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ heißt ein Buch, in dem der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich bereits in den sechziger Jahren die Vertreibung des wilden und gemischten Lebens aus den Städten beschrieb. Dieser Prozeß der Entmischung wird von Behörden nun unter falscher Flagge in ein neues Stadium geführt.

Szenenwechsel. Vergangene Woche gingen Berliner Senatoren in Klausur, um über die Durchsetzbarkeit – nicht über den Sinn – eines Vorschlags der Finanzsenatorin zu befinden, vier Theater in der Hauptstadt zu schließen. In Hamburg werden in diesen Tagen zunächst sechs öffentliche Bücherhallen dichtgemacht. Weitere Schließungen werden folgen. Hochschulen werden in diesem Jahr zwei Milliarden Mark gestrichen, während die Zahl der Studenten zunimmt. Und der Postminister erklärt, daß im Zeitalter des Mobiltelefons die „Voraussetzung für die Bestandsgarantie öffentlicher Telefonzellen“ entfallen sei.

Allen diesen Beispielen gemeinsam ist: Öffentlicher Raum wird vernichtet und eingeengt. Man läßt ihn, wie die Hochschulen, verkommen, um schließlich die Verwahrlosten aus der Stadt zu verbannen. Wie kurzfristig müssen Politiker eigentlich denken, um zu glauben, sogenannte Visitenkarten derartig reinhalten zu können?

Hannah Arendt hat die Katastrophe dieses Jahrhunderts als das Totalitäre beschrieben. Es entsteht, wenn das Politische zerstört wird. Eine Welt von lauter Privat- und Arbeitsmenschen macht feige und dumm. Sie wird unbewohnbar, denn die Sphäre des Menschen ist jener spannungsreiche und fragile Zwischenraum, den sich nur diese Gattung der ebenso Unvollkommenen wie einander Bedürftigen gemeinsam erschafft. Diesen Zwischenraum nannte sie in alter Tradition „Welt“.

Hier gibt es solch paradoxe Wunder wie „irdische Unsterblichkeit“ oder auch Macht, die Hannah Arendt zwischen Menschen entstehen sah, die sich mögen und sich zum gemeinsamen Handeln zusammenschließen.

„Macht kommt von mögen“, schreibt sie in der „Vita Activa“. Im englischen Wort power klingt dieser Ursprung nach. Totalitäre Herrschaft hingegen entspringt aus der Ohnmacht und der Entpolitisierung der Vereinzelten, die die Wärme des Privaten dem Licht der Öffentlichkeit vorziehen.

Das derzeitige Großreinemachen im öffentlichen Raum, die Sparpolitik, läßt sich nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie verödet der öffentliche Raum bereits ist – wie entpolitisiert wir darauf reagieren. Deshalb sind die üblichen Appelle an den Staat, die Klagen und Forderungen, die den Glauben an seine Allmacht bekräftigen, so schrecklich ohnmächtig.

Wo sind Initiativen, die mit Phantasie, Zeit und Geld aus tristen Bücherhallen attraktive öffentliche Räume machen? Was hindert uns eigentlich daran, Hochschulen in Zukunftswerkstätten zu verwandeln? Warum bildet sich keine public-privat-partnership, um beispielsweise in Theatern zu spielen? Dort wären ja viele Spiele denkbar, statt bloß auf hochsubventioniertem Samt hockend immerzu hoch auf die Bühne zu starren. Wenn der Staat nicht mehr kann, und wenn die Gesellschaft immer noch nicht will, kommen die Investoren zum Zuge. Während in Hamburg darüber debattiert wird, wie Bettler aus der Stadt vertrieben werden können, erfahren wir von Plänen für das Pilotprojekt eines „Entertainment- Palastes“ neuer Dimensionen. Geldanleger wollen in mehreren Städten neuartige Verkaufstempel für den Mercedes-Zweisitzer „Smart“ schaffen. Dazu gehört ein Multikomplexkino, in dem träumend der Alltag vergessen wird, ein CD-ROM-Erlebnispark für Kinder, in dem sie auch per Internet in die Ferne surfen; Reisebüros wird es natürlich geben. Dazwischen werden vollverglaste Verkaufsräume für jenes schnittige Automobil drapiert, das „mehr ist als ein Auto, sondern ein Mobilitätskonzept“. Konsumpaläste lassen sich offenbar am besten als Helfer zur großen Flucht verkaufen.

Was passiert eigentlich, wenn das Versprechen auf Flucht aus der Wirklichkeit nicht mehr gesteigert werden kann? Was, wenn die Kartenhäuser im Westen zusammenbrechen wie 1989 jene im Osten? Die müden und gereizten Gesichter in den Einkaufspassagen lassen nichts Gutes ahnen. Es ist ja nicht der Konsum, der die Warenwelt so grauenhaft macht, sondern der dumme, böse Perfektionismus und die Prothesengläubigkeit dieser Frischgeduschten, die den Tod leugnen und das Leben nicht wagen – und die sich nicht vorstellen können, was „irdische Sterblichkeit“ ist. Diese Zombies laugen die unvollkommene menschliche Welt aus und betreiben die Erosion des Politischen.

Aber es sind nicht nur sie, nicht immer nur die anderen! Warum ist es uns nicht möglich, die Ohnmacht des Staates, die sich in der sogenannten Sparpolitik äußert, als Chance für eine Neuerfindung des Politischen zu nutzen? Offenbar ist die Aussicht, ins Private zu retten, was noch zu retten ist, für die meisten von uns so aussichtsreich, daß wir das Öffentliche weiter veröden lassen. Es käme darauf an, es als gemeinsamen Raum neu zu entdecken. Reinhard Kahl