Grantscherben und Schmähtandler

■ Der Dokumentarfilm „Die Reise in das Innere von Wien“ von Jan Schütte blickt in den Wasserkopf Österreichs

Der Glaube an Wunder, im Sinne von „das Wunderbare“, aber auch von „sich wundern“, sitzt trotz allem Mißtrauen fest in den Hinterköpfen der Wiener und Wienerinnen. Der Autor des Buches Eine Reise in das Innere von Wien – Die Archive des Schweigens, Gerhard Roth, ließ sich von wunderlichen Wienfunden inspirieren, nachdem er 1986 aus der Provinz in den „Wasserkopf Österreichs“ zog. Der Film zum Buch, den der deutsche Dokumentarfilmer Jan Schütte drehte und den das ORF aus Anlaß des Österreich-Millenniums aufwendig produzierte, läuft nun im Abaton an.

Eine nächtliche Fahrt durch die Hofburg, Denkmäler blitzen auf. Knochige Hände ragen aus einem Erdhaufen, ein Skelett versucht dem Grabe zu entfliehen – symbolhafte Szene für die österreichische Zerrissenheit, die nach außen hin Alltag vorgaukelt, während innerlich die Ängste blühen. Wien ist eine große Nekropole, 15.000 Tote sind nach einer Pestseuche unter dem Ersten Bezirk vergraben, unter dem Stefansplatz befinden sich riesige Katakomben für Tote.

Aber in dieser Stadt leben auch Menschen, zum Beispiel Grantler und Schmähreißer in rauhen Mengen. Jeder ist sich selbst der nächste Held. Jan Schütte gabelt sich einen leidenschaftlichenAmateurhistorikerdieser Couleur auf, der ihm Wien erläutert – auf seine Weise: „Als die Türken kamen, wurde der Wein sauer“, oder: „Adolf Hitler wurde so groß, weil er leider in der katholischen Kirche keinen ihm ebenbürtigen Gegenspieler fand.“

Nächstes Bild: Nächtens steigen die Kanalisationsarbeiter die Schotterstege hinab. Durch den Regenüberlaufkanal floh Orson Welles in dem Film Der Dritte Mann vor der Polizei. Angeblich eine Billion Ratten leben hier unten, satt, zufrieden und ungestört.

Jan Schütte zog sich für seinen Film eher die politischen Höhepunkte aus Roth's Buch heraus. „Der Österreicher ist Sieger oder Märtyrer zugleich – oft mit dem gleichen Ergebnis“ (Roth). Schütte filmte etwa in dem Obdachlosenheim Meldemannstraße, in dem auch Adolf Hitler zwischen 1909 und 1913 untergekommen war und wo sich die Aufseher noch heute Wärter nennen. Hier gibt es inzwischen einen Schacht zum Dosenrecyclen.

Spätestens hier beginnt sich die österreichische Zuschauerin nach den Alltagsgeschichten der österreichischen Journalistin Lotte Spira zu sehnen, die mit ihrer Filmarbeit viel detailversessener den speziellen Witz der Obdachlosen einfängt. Schütte versteht keinen Dialekt, und das merkt man. Auf seine Frage, ob der Obdachlose wohl bald Arbeit und Wohnung finden werde, antwortet der „Sandler“ spöttisch: „Wird schon werden. Immer nur vorwärts.“ Ohne Rücksicht auf Verluste, immer nur vorwärts, das ist wohl seine zynische Beschreibung der „Eroberer Österreichs“ von 1938.

Beim Währinger Park befindet sich der jüdische Friedhof, das „Haus des Lebens“. Die Synagoge steht in der Leopoldsstadt, in der vor dem Holocaust 15.000 Juden und Jüdinnen inmitten einer blühenden Infrastruktur von Kaffeehäusern, Theatern und Bäckereien lebten. Täglich kamen Emigranten aus der Ukraine und Rußland nach Wien. „Gassen und Häuser sind dieselben, aber die Menschen sind weg, die Bevölkerung, in der ich lebte“, sagt ein Zurückkehrer.

„Zwei Schüsse ergeben zwei Tote!“ Der uralte Führer in der Hofburg, in roter Uniform mit Troddeln dran, bekommt doch echt Tränen in die Augen. Er führt den „stummen Zeugen von Sarajevo“ vor, das Auto, in dem Kronprinz Rudolf und seine Frau ermordet wurden. Der Monarchist zeigt beim Anblick des Einschußloches in der Uniform nicht viel Verständnis für die Selbstbefreiung junger Staaten aus dem Vielvölkergefängnis Habsburg: „Als gewöhnlicher Mensch, der ich bin, fragt man sich, hat das einen Sinn?“

Kerstin Kellermann Abaton, heute, 17.30 Uhr, bis Di.