"Der größte Feind der Literatur ist Selbstzensur"

■ Joachim Walther, Autor der Studie "Sicherungsbereich Literatur", über gute Bücher von schlechten Menschen und den Vorwurf moralischer Selbstgerechtigkeit

taz: Herr Walther, Ihnen ist vorgeworfen worden, sich die Position des moralischen Scharfrichters angemaßt zu haben. In der Zeitung „junge Welt“ hat man Sie als „selbstgerechten Rasterfahnder“ und „Stasijäger“ bezeichnet.

Joachim Walther: Die Pöbeleien aus der jungen Welt können wir getrost übergehen. Ich könnte noch eine ganze Reihe von Vorwürfen anführen, die schon vor der Veröffentlichung erhoben worden sind: Ich sei ein Verräter, ich gäbe unsere gemeinsame DDR-Identität auf, ich schlüge mich auf die Seite der Gegner, ich sei ein Nestbeschmutzer, ich handelte im westdeutschen Auftrag, um die ostdeutsche Literatur zu desavouieren. Diese Vorwürfe sind nun offenbar durch den sachlichen Ton des Buches gegenstandslos geworden. Ich bin ganz glücklich, daß das Buch jetzt da ist und das Material auf dem Tisch liegt, über das man reden kann.

Die Zusammenarbeit von Dichtern mit Geheimdiensten und die Überwachung von Schriftstellern gab und gibt es auch andernorts. Worin sehen Sie den Unterschied im Vergleich zur DDR?

Die Staatssicherheit als Organ einer Diktatur hatte einen anderen Auftrag als ein Geheimdienst einer demokratisch verfaßten Gesellschaft. Das betrifft sowohl das Unterstellungsverhältnis, die Kontrolle, das betrifft aber auch den Auftrag und die Methodik. Die Konspiration war das innere Zentrum der Diktatur in der DDR, sie bezog sich ja nicht nur auf den Geheimdienst, sie galt genauso in der Partei. Ein wesentlicher Unterschied besteht auch in der Quantität der Überwachung. Ein System, das nicht demokratisch legitimiert ist, muß bei Strafe des Untergangs Mittel und Ressourcen darauf verwenden, diese nicht legitimierte Macht abzusichern. Dafür war der primär nach innen gerichtete Geheimdienst da. Aber die Staatssicherheit war nur das letzte Fangnetz, das eingebaut war. Die Gesellschaft DDR hatte mehrere solcher Netze. Dazu gehörte auch das Klima der Unsicherheit, des Mißtrauens und der Angst. Der tückischste Feind der Literatur ist nicht die Zensur, sondern die Selbstzensur.

Wie weit ging die Eigenständigkeit des MfS im „Sicherungsbereich Literatur“?

Da gab es eine klare Trennung. Die Stasi war kein Dämon, kein Staat im Staate. Es gab ja nach der Wende solche Thesen. Um den Alleinschuldigen festzumachen, hat man auf die Stasi gezeigt. Aber die Stasi hat immer als Generalauftragnehmer der Partei fungiert, die Leitlinien kamen immer von den Parteitagen oder direkt aus der Parteiführung. Bei der Durchführung der Aktionen konnte das MfS allerdings „eigenschöpferisch“ arbeiten, wie das in der DDR hieß. Wobei auch dort wiederum die übergeordnete politische Zweckmäßigkeit zu beachten war. Das Ministerium hatte es relativ schwer, es mußte lavieren zwischen den Forderungen der Partei, nach außen hin das Bild einer kommoden Diktatur aufrechtzuerhalten, und dem gleichzeitigen Auftrag, alle Feinde frühzeitig zu erkennen und zu zerschlagen, wie das so schön hieß.

Sie haben über die unterschiedlichen Motive für die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem MfS geschrieben. Gibt es autorenspezifische Eigenschaften, die zur Spitzelei verführt haben?

Ja. Wobei man da in die Bereiche der Einfühlung kommt. Das war es, was mich im Kern interessiert hat an dieser Arbeit. Weshalb und mit welcher Begründung ein Literat sich an der Selbstunterdrückung der Literatur beteiligen kann. Da ist zum einen, was mit der Methode des Schreibens zu tun hat. Es hat ja einen seltsamen Reiz, Figuren zu erfinden. Es kann eine große Faszination davon ausgehen, sich eine zweite Biographie zu schaffen, von der nur sehr wenige wissen. Bei höher organisierten Schriftstellern – es gab ja auch simple Denunzianten, deren Literatur auch danach aussieht –, die auf einem bestimmten intellektuellen Niveau reflektieren, findet man ab und zu Hinweise auf ein Lustempfinden an diesem Doppelspiel. Das andere ist grundsätzlicher Natur: daß Intellektuelle mit ihrem Denken, mit ihren Texten nicht nur an der Gegenwart kleben oder sich auf Vergangenheit beziehen, sondern auch antizipieren. Hier lag, denke ich, eine Quelle der Verführung, indem die marxistische Ideologie die Anwendung bestimmter Mittel in einer Übergangszeit rechtfertigte, um vom „Reich der Notwendigkeit“ ins „Reich der Freiheit“ zu gelangen.

Konrad Franke, Verfasser einer DDR-Literaturgeschichte, hat in der „Süddeutschen Zeitung“ noch vor Erscheinen Ihres Buchs davor gewarnt, in die „Moralisierungsfalle“ zu tappen, weil ja nicht nur gute Menschen gute Bücher schreiben. Wollten Sie in Ihrer Studie ein Urteil über die Literatur der Betreffenden abgeben?

Nein, absolut nicht, ich neige nicht zu solchen Einseitigkeiten. Aber wenn davor gewarnt wird, daß Moral bei der Betrachtung der Vergangenheit keine Rolle spielen soll, dann werde ich hellhörig. Selbstverständlich, wie Oscar Wilde sagt, kann jemand, der Wechsel fälscht, durchaus ein guter Klaviervirtuose sein. Das gehört zu den Binsenweisheiten, die man nicht ständig wiederholen muß. Aber ebenso unzweifelhaft scheint mir, daß Literatur auch einen ethischen Kern hat. Bei der Aufarbeitung des konspirativen Kontextes der DDR-Literatur geht es um nichts anderes als um Ethos. Das hat mit der Freiheit des Wortes zu tun. Den Auftrag der Literatur sehe ich darin, die Freiräume offenzuhalten für sich selbst, aber auch für die Leser. Das ist ein Pakt, der außerhalb von staatlichen Strukturen zwischen Menschen geschlossen wird, und die Menschen sollten aufpassen, daß Staaten nicht dahin degenerieren, diese Freiheit einzuschränken.

Sie sehen einen Zusammenhang von moralischer Integrität und künstlerischer Glaubwürdigkeit?

Ich habe da meine Vorlieben – wie jeder Leser auch. Ich kann mich aber der Faszination von Texten nicht entziehen, auch wenn der Autor im Leben eine zynische, distanzierte Haltung zu den Dingen einnimmt. Aber es gibt freilich in der Literatur genügend Autoren, bei denen sich Leben und Werk in überzeugender Übereinstimmung befinden. Richtig ist, daß das nicht das letzte Kriterium für die Qualität eines Textes sein kann, nur kann man ja seine Vorlieben formulieren und kann sagen, daß einem ein Kollege wie Zola mit seinem „J‘accuse“ und seiner Literatur näher ist als jemand, der sich zeitweise totalitären Ideologien anschließt und daneben eine reine Kunst macht, die davon unberührt ist. Ich denke schon, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen der politischen Existenz und dem literarischen Text. Ich kann mir schwer vorstellen, daß jemand, der über Jahrzehnte einer Ideologie anhängt, in seinem Kopf soviel Freiheit hätte, um davon abzusehen. Ich denke, daß das Engagement von Schriftstellern bei der Staatssicherheit – ich sage es vorsichtig – zumindest Spuren in den Texten hinterlassen haben müßte. Das wäre Aufgabe der Literaturwissenschaft, diese Texte noch einmal neu zu lesen.

Warum mangelt es in Teilen der linken Intelligenz im Westen an Solidarität mit den einstigen Verlierern im DDR-System? Woher kommt dieser Hang zum moralischen Defätismus, der sich in Floskeln ausdrückt wie „man selbst wisse ja nicht, wie man sich in der DDR verhalten hätte“ usw.?

Diese letztlich erschreckende Formulierung, diese scheinbar tolerante Annäherung unter Brüdern, eine Art Demutsgeste oder vorauseilende Selbstbeschuldigung, empfinde ich als eine höfliche Form der Beleidigung. Das würde bedeuten, daß wir uns auf einer unteren moralischen Ebene treffen sollen. Bei vielen mag das ehrlich gemeint ein, ich finde aber, das ist kein Angebot. Es wäre, nachdem man hoffen durfte, daß sich in der Bundesrepublik demokratische Bürgertugenden massenhaft herausgebildet haben, eine schwerwiegende Enttäuschung.

Sie sind Vizepräsident im West- PEN. In Sachen Vereinigung der beiden PEN-Clubs gab es in den letzten anderthalb Jahren ein Hin und Her, bei dem selbst interessierte Beobachter den Überblick verlieren konnten. Zunächst beschließt der West-PEN, die Vereinigung auf Eis zu legen. Dann unterlaufen prominente Mitglieder des Clubs diesen Beschluß, indem sie dem Ost-PEN beitreten. Jetzt soll eine Kommission gebildet werden, die sich mit den Modalitäten eines möglichen Zusammengehens befassen soll. Können Sie kurz Ihre Position in dem Streit beschreiben?

Nicht nur Ihnen fällt es schwer, diese Dinge noch zu verstehen, sondern selbst mir, der sich sozusagen im Zentrum des ideologischen Hurricanes befindet. Zunächst habe ich nicht vor, zurückzutreten, nicht weil ich mich ans Amt klammere, sondern weil ich zur Zeit Writers-in-prison-Beauftragter bin und das wichtiger finde als die Querelen. Der Beschluß vom letzten Jahr sollte die Vereinigung nicht auf Eis zu legen. Wir wollten lediglich nicht die schnelle Vereinigung, sondern genau hinschauen, mit wem wir uns vereinigen. Das PEN-Zentrum Ost hat inzwischen einen Prozeß der Selbstaufklärung eingeleitet, das muß man anerkennen. Mehr als zehn belasteten Mitgliedern ist der Austritt nahegelegt worden, die sind inzwischen auch ausgetreten. Inzwischen ist aus ihrem Statut auch die Formulierung herausoperiert worden, daß sie Rechtsnachfolger des DDR-PEN- Zentrums seien. Sie sind auf dem Weg und auf ihm ziemlich weit fortgeschritten. Der Rest ist für mein Empfinden lösbar.

Was ist das für ein Rest?

Die eindeutigen Fälle chartawidrigen Verhaltens sind im Grunde genommen schon gelöst, Funktionäre wie Höpcke, Kant, Kamnitzer sind ausgetreten. Jetzt sind noch ein paar Kollegen drin, die der Empfehlung, den PEN zu verlassen, nicht gefolgt sind. Das eigentliche Problem ist jedoch ein anderes. Ich habe zunehmend den Eindruck, daß das, was jetzt als Streit abläuft, ein originär westdeutsches Problem ist. Die Wogen gehen immer höher – jedoch kurioserweise zwischen den „rein westdeutschen“ PEN-Mitgliedern. Offensichtlich sind das unausgesprochene und unausgefochtene Konflikte, deren Ursachen vor 1989 liegen. Manchmal scheint durch, daß es eigentlich um die alte ideologische Lagerbildung „rechts-links“ geht. Ich möchte mit dieser ideologischen Positionierung nichts mehr zu tun haben, ich finde, daß das anachronistische, untaugliche Muster der Politik sind. Insofern bin ich äußerst betrübt, was den Zustand des PEN anbelangt, und zwar des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland (West).

Noch einmal zurück zum Buch: Gab es persönliche Reaktionen auf die Studie, von Betroffenen, Kollegen, Opfern, Tätern?

Ja, von beiden Seiten. Es gibt eine ganze Reihe von Kollegen, die sich zu DDR-Zeiten durch widerständiges Verhalten ausgezeichnet haben, die mir zu dem Buch gratuliert haben. Dann gab es Reaktionen von Personen, die im Buch weniger rühmlich erwähnt sind. Die kontern, die Stasi sei eine Firma gewesen, die professionell Lügen notiert habe – was freilich Schwachsinn ist. Die Hauptnahrung jedes Geheimdienstes ist Information, und diese Information muß einen Nährwert haben, sonst geht der Geheimdienst an Unterernährung ein.

Haben Sie jetzt die Nase voll von den Stasiakten?

Ja, absolut. Mir reicht's. Interview: Peter Walther