Eher zu Männern hingezogen

■ Schwierige Selbstfindung: Howard Cruses großer Comic-Roman über ein Coming-out in den sechziger Jahren

Frühe Sechziger, tief in den Südstaaten. Toland – jung, ziellos und Aushilfstankwart – liebt Ginger. Ginger singt Protestlieder zur Gitarre, demonstriert mit dem örtlichen Civil Rights Movement und trinkt ihr Bier in den Bars, in denen die niggahs und die fags verkehren. In ihrer Gesellschaft bekommt Tolands Leben Richtung und Sinn – eine Zeitlang zumindest. Denn je vollständiger er sich zum liberalen Weltbürger verwandelt, der gerne Jazz hört, desto aufdringlicher plagt ihn sein verwirrtes Gefühlsleben: Fühlte er sich nicht als Kind schon irgendwie eher zu Männern hingezogen als zu Frauen?

Howard Cruses Liebesdrama entpuppt sich als schwule Selbstfindungsgeschichte mit den üblichen Kautelen und Komplikationen: Ginger sieht sich als Mentorin mißbraucht, Toland wird von Schuldgefühlen geplagt, weil er sich zauderhaft, ungerecht und zu unpolitisch verhält. Doch angesichts Gay-Bashing und rassistischer Morde, der allgegenwärtigen Gewalt von Collegeboys, Cops und Provinzpolitikern wirken angestrengte Beziehungskisten sogar auf die Betroffenen eher unangebracht. Darum wird nicht viel diskutiert. Das bißchen Emanzipiertheit, das Ginger und Toland im Zweifelsfall fehlt, prägen ihnen Umstände, Zustände und Zurichtungen ganz von alleine ein.

Homophobie und Rassismus hier, schwule Indolenz und Ichbezogenheit dort: kaum eine kritische oder selbstkritische issue, die Howard Cruse auslassen wollte in seinem voluminösen Comic-Roman, seinem halbautobiographischen Opus magnum, mit dem er 25 Jahre Tätigkeit im Comic- Kleinkunstgewerbe beschließt. Ziemlich komplizierter Stoff für jemanden, der in seinen Daily Strips kaum je einen einzigen vernünftigen Gag hingekriegt hat.

Zwar wurde Cruse Anfang der Siebziger als welterster schwuler Comic-Künstler bekannt; später bot sein Gay Comix-Magazin die Probebühne für jene schwulen und lesbischen Soap Operas (von Tim Barcla, Donna Barr, Roberta Gregory), deren herzwarme Klugheit bald eine ganze Generation von Nachahmern prägte.

Bloß Cruses eigene Comics langweilten gleichbleibend mit drögem Collegehumor und schlecht konstruierten Charakteren. Wo er sich ans ernsthafte Erzählen wagte, stand ihm zumal sein steifer Zeichenstil im Weg: als wollte er durch mühsame Kleinarbeit simulieren, was sein Vorbild Robert Crumb mit wenigen Strichen aufs Papier wirft. Doch wo Crumbs Figuren fest, fleischig und dreidimensional in ihren Bildern stehen, wirken Cruses Charaktere wie Pappkameraden, die sich dem Betrachter allenfalls ein bißchen entgegenwölben.

Immerhin: In „Am Rande des Himmels“ hat er sich redlich bemüht, aus dem Handicap eine Tugend zu machen. Die Geschichte ist als Erinnerungsfragment inszeniert; so kann Cruse die überzogenen Posen und verrutschten Physiognomien unbeschwert übertreiben und die Leblosigkeit der Bilder ins Auratische steigern – jede Szene muß der Ich-Erzähler einzeln aus den Tiefen des Gedächtnisses hervorholen. Mal gelingt es ihm dabei, seine Erinnerungen als fortlaufenden Fluß einer Geschichte zusammenzuhalten, mal wirft er die verschiedensten Zeiten und Ereignisse Bild gegen Bild nebeneinander. Bei allem wird das übliche Comic-Gebot, Bilder und Texte müßten sich gegenseitig „ergänzen“, mit Bedacht ignoriert: Die stetig wechselnden Weisen, in denen beide verschränkt, getrennt oder gegeneinander versetzt werden, begleiten ganz anschaulich Nähe und Distanz zum Geschehen, Leichtigkeit und Mühsal in der Rekapitulation.

Diese Art erzählerischer Zerstreutheit ist nicht bloß hübsch anzusehen und zu lesen. Nebst der Schwierigkeit, sich überhaupt zu erinnern, demonstriert „Am Rande des Himmels“ vor allem den gescheiterten Versuch, sich die eigene Biographie als Emanzipationsgeschichte zu vergegenwärtigen. Wenn es schon einen Bildungsroman braucht, um sein „Selbst“ zu rekonstruieren, dann – ganz zeitgemäß – als Pastiche und als Patchwork. Und dafür ist der Comic nicht die schlechteste Form. Jens Balzer

Howard Cruse: „Am Rande des Himmels“. Carlsen Verlag, Hamburg 1996, 146 Seiten, 42 DM