Zerrissen zwischen zwei Orten

Gesichter der Großstadt: Filiz Yüreklik (52) war die „Gastarbeiterin Nummer 18“. Vor genau 32 Jahren kam sie von Istanbul nach Berlin – zu Telefunken  ■ Von Julia Naumann

Der Begriff „Heimat“ gefällt Filiz Yüreklik nicht. „Heimat ist ein blödes Wort“, sagt sie und verdreht etwas genervt die Augen. Der 52jährigen ist es viel wichtiger, daß sie sich dort, wo sie lebt, wohl fühlt. Zwei Städte liebt sie: Istanbul und Berlin. Und trotzdem: Weder Berlin, wo sie seit über 30 Jahren wohnt, noch Istanbul, wo sie aufgewachsen ist, fühlt sie sich richtig „zugehörig“. „Das ist typisch für uns“, charakterisiert Filiz Yüreklik die erste Generation der MigrantInnen aus der Türkei. Diese „Zerrissenheit“ sei auch bei ihr selbst noch da, trotz ihrer vielen Berliner Jahre.

Dabei hatte die gelernte Schneiderin ein langfristiges Leben in einem anderen Land erst gar nicht geplant. Doch als Filiz Yüreklik 1964 in Istanbul auf einmal arbeitslos wird, weil ihr griechischer Lehrherr Nico aufgrund des Zypernkonflikts plötzlich mit seiner Famile auswandern muß, beschließt die 20jährige, ebenfalls die Taue zu kappen.

Hilfreich ist dabei eine Freundin, die beim Arbeitsamt beschäftigt ist. Sie drückt Filiz eine bunte Werbebroschüre der Firma Telefunken in die Hand, und die Sache ist sofort entschieden. Denn die Firma, die damals aufgrund des massiven Arbeitskräftemangels junge Türkinnen für feine Montagearbeiten in der Rundfunk- und Fernsehproduktion sucht, interessiert Filiz Yüreklik. „Das war eine Prestigefirma in der Türkei, überall in Istanbul wurde für Telefunken geworben“, erinnert sie sich. Danach geht alles ganz schnell. Innerhalb von zwei Wochen bekommt Filiz ihre Papiere, packt einen Koffer – und ist weg.

Nach einer beschwerlichen fünftägigen Reise kommt sie im November 1964 in Berlin an. Filiz ist jetzt „Gastarbeiterin Nummer 18“, eine der ersten Anwerberinnen in der Stadt. Von den Hoffnungen blieb zunächst wenig. Sie ist entsetzt von dem Arbeitnehmerwohnheim von Telefunken in der Kreuzberger Stresemannstraße mit winzigen Zimmerchen und einer Kochnische, die sich zwei oder manchmal sogar vier der Frauen teilen müssen.

Doch die anderen jungen Frauen im Wohnheim werden bald zum Familienersatz, zu Schwestern, zu Müttern, die das Gefühl, betrogen worden zu sein, überdecken. Nur 2 Mark 28 verdient Filiz in der Stunde und muß außerdem 30 Mark vom Lohn für den Platz im Wohnheim bezahlen. Mit den türkischen Frauen im Wohnheim verbringt sie ihre kärgliche Freizeit, fährt am Sonntag in den Grunewald und an den Wannsee zum Picknick. Die „Familie“ zerfällt jedoch nach ein paar Jahren, viele Frauen heiraten oder nehmen Jobs in anderen Fabriken an.

Erst am vergangenen Wochenende, nach 32 Jahren „Exil“, sieht sich die erste Frauengruppe, die 1964 die Türkei nach Berlin verließ, wieder: bei einem von Filiz Yüreklik organisierten Treffen im ehemaligen Arbeiterwohnheim, wo mittlerweile das Sozialpädagogische Institut (SPI) seinen Sitz hat. „Wir haben gelacht und gefeiert, aber uns noch nicht richtig darüber unterhalten, wie es uns in all den Jahren ergangen ist“, beschreibt Filiz die Begegnung. „Das kommt später.“ Doch eines sei deutlich geworden: „Genau wie damals sind die meisten Frauen wieder allein.“ Geschieden von den Männern, vielen türkischen und ein paar deutschen, die Kinder aus dem Haus.

Ähnlich ist es bei Filiz. Auch sie hat ihren „Arbeitsaufenthalt“ immer wieder verlängert, hat geheiratet und ist jetzt schon seit vielen Jahren von ihrem Mann geschieden. Ihre Tochter Safak ist 24, wohnt aber noch bei der Mutter: „Wir sind wie Freundinnen“, beschreibt Filiz die Beziehung zur Tochter, „jede kann für sich entscheiden, was sie will.“ Genauso sei sie von ihren Eltern in Istanbul erzogen worden, „sehr freiheitlich“.

Ähnlich wie die anderen Frauen hat auch Filiz heute noch leichte Probleme mit der deutschen Sprache, verdreht manchmal die Reihenfolge der Wörter. Keine Firma, bei der sie gearbeitet hat, sei es Telefunken oder Bosch, hätte Sprachkurse bezahlt: „Die wollten nicht, daß wir etwas verstehen, daß wir unsere Rechte durchsetzen.“ Doch weil die erste Generation die deutsche Sprache nicht richtig beherrsche, „haben wir es mit unserer Mimik sehr weit gebracht“. Mit den Augen, mit den Händen und Füßen.

Doch Filiz Yüreklik war trotz der fremden Sprache immer aktiv und hat gekämpft. Als Mitglied im Betriebsrat 1972 oder Anfang der 80er Jahre, als sie einen eigenen Kunstgewerbeladen am Mariannenplatz eröffnete. Den mußte sie vor knapp zwei Jahren schließen. Heute lebt sie von der Sozialhilfe. Filiz Yüreklik sucht eine neue Arbeit, doch in einer Fabrik will sie „nie wieder arbeiten“.

1976, nach der Trennung von ihrem Mann, will sie eigentlich zurück in die Türkei, „endgültig“. Doch glücklich ist sie dort nicht. Als alleinstehende Frau mit Kind sei es „unmöglich“ gewesen, dort zu leben, auch finanziell. Die Sehnsucht nach Berlin und ihren FreundInnen wird zu stark, so daß sie nach drei Jahren „heimkehrt“. Filiz ist heute froh, daß sie im Gegensatz zu vielen anderen MigrantInnen, diesen Schritt getan hat. „Ich bin jetzt sicher, daß ich nicht mehr in der Türkei leben will.“ Ab und zu hat Filiz Yüreklik noch Sehnsucht nach Selbstverständlichkeit, „wenn die Leute im Supermarkt ständig fragen, woher ich denn komme“. Und dann ist sie wieder da, diese Zerrissenheit im „Exil“, wie sie Deutschland nennt: „Ich bin keine Türkin in Deutschland und keine Deutsche in der Türkei.“