Erwartungen an HIV-Therapie

Mediziner sind uneins über die beste Strategie bei der Behandlung von HIV-Infizierten  ■ Von Knut Janßen

Andreas Hastreiter schluckte das erste Medikament bis vor kurzem morgens um 5 Uhr. Zwischen 6 Uhr und 6.30 Uhr mußte er frühstücken, weil er die dann fälligen Pillen nicht auf nüchternen Magen einnehmen durfte. Das Frühstück sollte aber leicht und möglichst fettfrei sein, damit sein Magen das um 8 Uhr fällige Medikament wie gewünscht aufnehmen kann. Weitere Medikamententermine hatte Andreas dann um 4 Uhr nachmittags, um 20, 21 und um 24 Uhr. Seine Essenszeiten sind dadurch ziemlich festgelegt.

Die aufwendige Therapie soll die zu befürchtenden Folgen seiner HIV-Infektion, von denen er schon einige zu spüren bekommen hat, vermeiden helfen. Erste Eindrücke aus verschiedenen HIV- Kliniken bestätigen seine Erwartungen: Deutlich weniger Menschen leiden unter HIV-bedingten Krankheiten.

Mittlerweile werden neun nachweislich gegen HIV aktive Medikamente, bekanntere wie AZT, ddI und ddC und weniger bekannte wie beispielweise 3TC und RTV, in unterschiedlichen Kombinationen eingesetzt. Ob die Therapie im Einzelfall erfolgversprechend ist, können die Mediziner durch Messen der Viruskonzentration im Blut innerhalb von wenigen Wochen direkt feststellen: Die Viruslast kann von 400.000 und mehr Viren pro Milliliter Blut bis hin zu nicht mehr feststellbaren Konzentrationen gesenkt werden. Fraglich bleibt, ob sich die gesenkte Viruslast tatsächlich für jeden Betroffenen durch weniger oder erst später auftretende Symptome auszahlt. Große Unsicherheit herrscht vor allem über den richtigen Zeitpunkt des Therapiebeginns.

HIV belastet das Immunsystem nach neueren Erkenntnissen gleich vom Beginn der Infektion an und führt mit der Zeit zu dessen zunehmender Ermüdung. Wird das Virus bereits in dieser Phase nachhaltig unterdrückt, könnte die Schädigung theoretisch verhindert werden.

Brian Cassidy hatte im April unsafen Sex mit seinem Freund und hat sich dabei wahrscheinlich mit HIV angesteckt. An einem Freitag im Juni erhält Brian sein positives Testergebnis. Am darauffolgenden Mittwoch entscheidet er sich für eine antivirale Therapie, mit einem ähnlichen Tagesplan wie Andreas Hastreiter. Die Medikamente bereiten ihm manchmal etwas Übelkeit und Konzentrationsschwäche, aber, so Cassidy, das sei zu ertragen.

Brian hat sich erst einmal eine Frist von einem Jahr gesetzt, um sein „Ziel“ zu erreichen; das Wort „Hoffnung“ ist ihm zu einseitig, weil man schließlich auch mit HIV ein lebenswertes Leben führen kann. Wenn er mit seiner Viruslast erst mal unter die Nachweisgrenze gekommen ist, wird er wahrscheinlich die Therapie abbrechen.

„Selbst wenn das Virus für mehr als ein Jahr nicht mehr im Blut nachgewiesen werden konnte, trat es nach dem Absetzen der Medikamente innerhalb kürzester Zeit wieder auf“, berichtet Keikawus Araste'h, Oberarzt am Berliner Augusta-Viktoria-Krankenhaus, von den bisherigen Erfahrungen und warnt vor der zur Zeit „mit teils aggressiven Marketingmethoden“ geschürten Hoffnung auf Heilung. Gerade in einer emotional angespannten Situation könnten die Patienten die zu erwartenden Erfolge überbewerten. Die Medikamente müßten für viele Jahre eingenommen werden.

Die Aussichten, von einer permanenten Einnahme der Medikamente zu profitieren, scheinen gut. Die vorhandenen Medikamente sollen so eingesetzt werden, daß sie möglichst lange wirken. Wie das am besten gemacht wird, ist in der Ärzteschaft umstritten. Die Faktenlage ist dünn. Es wird um Meinungen gestritten.

Um Resistenzen zu vermeiden, plädieren einige Ärzte für den Einsatz von drei Medikamenten vom ersten Tag der Therapie an, weil die Ausbildung einer Resistenz von HIV gegen drei Medikamente auf einmal rein rechnerisch sehr unwahrscheinlich ist. Die Argumentation ist Augenwischerei, solange nur Zahlenspiele mit Wahrscheinlichkeiten der viralen Resistenz betrieben und andere Faktoren bewußt aus der Diskussion rausgehalten werden, meinen die Befürworter einer Zweier-Therapie. In Wahrheit muß etwa auch mit zellulären Resistenzen gerechnet werden, mit denen der Körper die hohen Konzentrationen an Medikamenten ausgleicht. Wenn in der Folge gleich drei statt zwei Medikamente unwirksam werden, ist eine Option für anschließende noch wirksame Kombinationen unnötig verschenkt worden.

Das eher vorsichtigere Medizinerlager denkt auch über die Reihenfolge der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten in der Therapie nach. Zuerst sollten Kombinationen geschluckt werden, die vergleichsweise wenig Resistenzen gegen die noch nicht eingesetzten Medikamente begünstigen, um möglichst viele Kombinationen nacheinander einsetzen zu können. Die forschere Gegenseite will Resistenzen durch den Einsatz der „wirksamsten“ Kombinationstherapie von vornherein verhindern. Und das ist für sie eine Kombination, die bei 90 statt etwa bei 40 Prozent der Patienten die Viruskonzentration über ein Jahr unter der Nachweisgrenze gehalten hat.

Andreas Hastreiter hat trotz der täglich vorbeugend getrunkenen vier bis fünf Liter Flüssigkeit schließlich eine Nierenkolik bekommen. Jetzt nimmt er andere Medikamente. Sein Wecker für die erste Pille klingelt jetzt um 7 Uhr morgens. Ansonsten ist sein Tagesablauf der gleiche geblieben.

„Arbeiten könnte ich mit dem Therapieplan nicht mehr“, erzählt er im Wintergarten seiner Münchner Wohnung. Die Therapie sei zu belastend. Sie sei aber auch ein „Strohhalm“ für ihn, denn er möchte alles, was ihm angeboten wird, auch annehmen, um sich später nicht vorwerfen zu müssen, irgend etwas nicht versucht zu haben.